Bürger in AachenLeben mit der Angst vor dem Supergau in Tihange oder Doel

Dampf steigt am 12.04.2016 in Huy (Belgien) aus dem Atomkraftwerk Tihange des Betreibers Electrabel.
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Aachen – Die Sorgen haben sich im Laufe der Jahre in Lars Vollprachts Gesicht gegraben. Man sieht sie auch dann, wenn er lächelt. Der 50 Jahre alte Elektro-Ingenieur hat zwei Söhne, eine Frau, er lebt in einem idyllischen Einfamilienhaus im Aachener Stadtteil Haaren. Gute Gegend, quirlige Nachbarn, es gibt einen Fußballverein, man kann im Ort Tennis spielen und turnen. Aber der drahtige Vollpracht hat einen anderen Lebensschwerpunkt gewählt. Nicht ganz freiwillig. Vollpracht protestiert seit 2012 gegen Tihange. Es gibt kaum eine Kundgebung, die er auslässt.
„Tihange ist ein bestimmendes Thema in meinem Leben. Oft beschäftige ich mich den ganzen Tag damit, auch wenn ich weiß, dass das nicht gut ist“, sagt er. Auch das Familienleben habe gelitten. Und doch: „Was ist, wenn es passiert?“
Geschichte von Pannen und Täuschungen
Siebzig Kilometer entfernt, irgendwo am westlichen Horizont liegt Huy, wo jenes Atomkraftwerk steht, das vielen Menschen in der Region Angst macht: Tihange. Die Geschichte der AKW Tihange und Doel ist eine Ansammlung von Pannen Und Täuschung. Sie beginnt im Jahr 2012. Bei Ultraschall-Untersuchungen der Druckbehälter in den beiden belgischen Atom-Anlagen stellen Experten Materialfehler fest. Die Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 müssen runtergefahren werden. Immerhin liegen im Druckbehälter die Brennstäbe. Sollte der Reaktor bersten, käme es zur Kernschmelze. Stunden später würde eine radioaktive Wolke aufsteigen und mit den Westwinden Richtung Nordrhein-Westfalen ziehen. Einer Studie der Universität in Wien zufolge würde Aachen im Ernstfall zum „unbewohnbaren Gebiet“ erklärt.
Im März 2014 mussten die Reaktoren auf behördliche Anordnung erneut heruntergefahren werden. Der Grund: „unerwartete Resultate“ bezüglich mechanischer Resistenz. Tatsächlich ergaben Tests, dass sich die Zahl der Risse auf 16.000 erhöht hat. Doch die belgische Atomaufsichtsbehörde Fanc erteilte dem Betreiber die Genehmigung, Tihange 2 wieder hochzufahren. Fanc und AKW-Betreiber Engie-Electrabel hatten ihre Erklärung für die Risse angepasst. Es habe sich herausgestellt, dass die Wasserstoff-Flocken im Metall nicht während des Betriebs, sondern schon beim Schmieden entstanden seien. Dass sich die Anzahl der Risse deutlich erhöht habe, habe mit der Verfeinerten Messtechnik zu tun.
Größte Anti-Atomkraft-Bewegung seit den 1980er Jahren

Gereon und Alice Hermens
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Doch es sind nicht nur die Risse. Immer wieder kommt es in Doel und Tihange zu Zwischenfällen. Erst am vergangenen Sonntag musste der Betreiber einräumen, dass im Primärkreislauf des Reaktors 1 ein Leck aufgetreten und Kühlwasser ausgetreten ist. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich dabei um radioaktives Wasser handle, sagt eine Sprecherin. Eine Gefahr für die Bevölkerung aber bestehe nicht, versicherte das Unternehmen.
Die Bevölkerung vertraut den Erklärungen nicht mehr. In der Region hat sich die wohl größte Anti-Atomkraft-Bewegung seit den 1980er Jahren formiert. Die Forderung der AKW-Gegner leuchtet gelbschwarz: „Stop Tihange“.
Familie Hermens hat Supergau durchgespielt
Familie Hermens ist auf den Ernstfall vorbereitet. Im Keller lagern Vorräte für drei Wochen. 15 Kästen Mineralwasser, Eintöpfe, Nudeln und Reis. Mutter Alice zeigt das Notfall-Set: Schutzanzüge, Masken und Jodtabletten. Falls die Sirenen schrillen, wird Vater Gereon im Büro in den Schutzanzug schlüpfen, die drei Töchter aus der Schule holen und sich zu Fuß nach Hause durchschlagen. Bevor der Druck in der Leitung abfällt, wird Mutter Alice die Wassertanks auffüllen und die Meerschweinchen ins Haus holen.
Dann wird sich die Familie einschließen, auf Instruktionen im Radio warten und hoffen, dass sie den Super-Gau unbeschadet übersteht. „Wir haben das alles durchgespielt und gemerkt, was das für ein Wahnsinn ist“, sagt Gereon Hermens. „Es gab eine Zeit, in der die Angst großen Einfluss auf unser Leben hatte. Allmählich haben wir Distanz geschaffen, sonst kann man das nicht aushalten.“ Das Paar sitzt im Garten seines Hauses in Brand: Idyll am Rande Aachens, der nächste Reaktor ist keine 70 Kilometer entfernt.
Städteregionsrat wehrt sich gegen Vorwurf der Panikmache
Helmut Etschenberg ist das politische Gesicht des Protests. Er ist Städteregionsrat und will „kämpfen, bis das Ding stillsteht“. Seine Behörde hat Broschüren gedruckt, Diskussionen veranstaltet und Erklärvideos ins Netz gestellt. 2017 startete er die Ausgabe von Jodtabletten, damit die Schilddrüse bei einer Katastrophe kein radioaktives Jod aufnehmen kann. Kritiker werfen ihm Panikmache vor. Etschenberg verneint. „Es geht um die reale Angst der Bevölkerung. Wir alle wären im Ernstfall betroffen.“ Er sei kein Atomkraftgegner, aber: „Hier werden Menschenleben aufs Spiel gesetzt und das nur aus einem Grund: Wirtschaftliches Interesse.“
Belgien hat zwar bereits 2003 den Atomausstieg beschlossen, doch mangelt es am Aufbau einer alternativen Stromversorgung. Noch immer decken Tihange und Doel 50 Prozent des Bedarfs. Etwa eine Million Euro Gewinn würde allein der Reaktor Tihange 2 pro Tag abwerfen, schätzt Etschenberg. „Das ist Geld, auf das der belgische Staat nicht verzichten will.“ Etschenberg vermutet dahinter eine mächtige Atomlobby.
Belgische Regierung streitet Gefahr systematisch ab

Lars Vollpracht
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Dabei taucht immer wieder ein Name auf: Jan Bens. Der bisherige Chef der Atomaufsichtsbehörde Fanc hatte die Risse immer für unbedenklich erklärt. Etschenberg hat Zweifel an der unabhängigen Expertise des Fanc-Leiters. Vor seinem Wechsel an die Spitze der Behörde arbeitete Bens in leitender Stellung bei Engie-Electrabel, dem Betreiber der beiden belgischen Atomanlagen. Nun soll die Stilllegung der Anlage juristisch erzwungen werden. 2016 hat die Städteregion zwei Klagen eingereicht. Inzwischen unterstützen 130 Kommunen die Aktion – von Gelsenkirchen bis nach Luxemburg. Im Herbst soll es eine mündliche Anhörung geben.
Die belgische Regierung indes zeigt sich unbeeindruckt. Der Betreiber sagt auf Anfrage, dass man Die Gefühle der Menschen verstehen, aber ihrer Argumentation nicht folgen könne: „Die Reaktoren sind sicher.“ Viele Atom-Wissenschaftler sehen das anders. Vor gut zwei Wochen hat die Städteregion Vertreter der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG) zu einem Kongress geladen. Sie fordern, Tihange 2 stillzulegen.
Vorwurf der Manipulation
Und nicht nur das. Sie werfen den Betreibern vor, Unterlagen manipuliert zu haben. „Wir sind sicher, dass die Risse schon beim Bau des Reaktors festgestellt worden waren. In den ersten Protokollen tauchen sie auf, in den weiteren für die Genehmigung relevanten sind sie plötzlich wieder verschwunden“, sagt Physiker Wolfgang Renneberg, bis 2009 Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit des Umweltministeriums, heute Berater der Städteregion.
Aber auch Deutschland ist an der Entwicklung nicht unschuldig. Lange hatte das Land NRW den Betrieb Reaktoren über Beteiligungen mitfinanziert. 23,3 Millionen Euro hatte der NRW-Pensionsfonds in Anleihen der Betreiber gepumpt. Als die Sache aufflog, stieß das Land die Papiere eilig ab.
Auch Belgien verteilt jetzt Jodtabletten
Auch Material kommt aus Deutschland. Die Brennstäbe werden aus Gronau und Niedersachsen geliefert. Zuletzt radelte Vollpracht ins belgische Eupen, um auf einer Polizeistation Strafanzeige gegen den Innenminister, die Fanc und den AKW-Betreiber zu erstatten: „Die Polizisten waren freundlich, sie hatten sogar Bestätigungsformulare vorbereitet.“ Allein in Eupen gingen 176 Forderungen an den Staatsanwalt des Königs ein.
Nun hat offenbar auch die belgische Regierung Zweifel an der Sicherheit der Reaktoren, deren Abschaltung sie verhindert. Im März hat Brüssel vorsorglich 45 Millionen Jodtabletten zur Verteilung an die Bevölkerung bestellt. Als Anlass zur Sorge soll das nicht verstanden werden, so Innenminister Jan Jambon. „Momentan besteht kein spezielles Risiko in Verbindung mit unseren Atomkraftwerken.“