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Interview

DGB-Chefin Fahimi
„Wir steuern auf einen gesellschaftlichen Großkonflikt zu“

5 min
Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), bei einer Pressekonferenz. (Archivbild)

Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), bei einer Pressekonferenz. (Archivbild)

DGB-Chefin Fahimi wirft der Regierung vor, zu spalten. Auch für Arbeitgeber findet sie scharfe Worte – und droht offen mit Streiks. 

Seit 2022 steht Yasmin Fahimi an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) – als erste Frau. Von 2014 bis 2015 war sie Generalsekretärin der SPD und danach Staatssekretärin im Arbeitsministerium. Heute schaut sie von außen auf die Arbeit der Koalition und Regierung – und spart nicht mit Kritik.

Frau Fahimi, Sie haben die geplante Bürgergeldreform der Bundesregierung heftig kritisiert, eine Klagewelle vorausgesagt und die ganze Debatte als absurd bezeichnet. Was genau stört Sie an der Diskussion?

Ich habe nichts gegen Kontrolle, und natürlich muss man jede Form von Betrug unterbinden. Aber wir fokussieren uns auf ein Mini-Problem und pushen das zu einem Mega-Thema hoch, das weder volkswirtschaftlich relevant ist noch in der Frage der Sozialkosten. Es löst keines der Probleme, die wir eigentlich in diesem Land haben. Die Bundesregierung setzt da einen völlig falschen Fokus. Wir sind mitten in einer der größten wirtschaftlichen Stagnationsphasen seit Dekaden, aber wir diskutieren vor allem über Bürgergeld und Kürzungen im Sozialsystem. Es wird so getan, als könnten von Kürzungen im Sozialstaat Wachstumsimpulse ausgehen. Das ist nicht der Fall. Die 0,6 Prozent Totalverweigerer im Bürgergeldbezug sind nicht die relevante Frage.

Sondern?

Entscheidend ist: Welche Sicherheit haben Beschäftigte im Krisenfall, wenn sie ihren Job verlieren? Jede Woche erreichen uns Nachrichten über dramatischen Stellenabbau. Wir haben es hier mit Kündigungen zu tun von Beschäftigten, die teilweise über Jahrzehnte hinweg einen sicheren, guten Arbeitsplatz hatten. Denen muss man Schutz und Sicherheit geben – anstatt sie durch neue Sozialkürzungsdebatten zu verunsichern.

Volker Consoir (IG-Metall) Bärbel Bas (Bundesministerin für Arbeit und Soziales und SPD-Parteivorsitzende) Lars Klingbeil (Bundesminister der Finanzen, Vizekanzler und SPD-Bundesvorsitzender), Katherina Reiche (CDU, Bundesministerin für Wirtschaft und Energie), und Yasmin Fahimi (Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Anfang Oktober.

Volker Consoir (IG-Metall) Bärbel Bas (Bundesministerin für Arbeit und Soziales und SPD-Parteivorsitzende) Lars Klingbeil (Bundesminister der Finanzen, Vizekanzler und SPD-Bundesvorsitzender), Katherina Reiche (CDU, Bundesministerin für Wirtschaft und Energie), und Yasmin Fahimi (Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Anfang Oktober.

Das Schlimmste ist aber: Wir kommen nicht dazu, über die wirklich wichtigen Fragen zu reden, weil sich alle ständig abarbeiten an sogenannten Sozialreformen, die angeblich nur dann gut sind, wenn sie möglichst schmerzhaft sind. Ich finde das Wahnsinn. Man fährt bewusst in den Nebel, obwohl offensichtlich ist, was eigentlich zu tun wäre.

Und das wäre?

Die wesentlichen sozialen Fragen sind: Machen wir die Rente sicher für alle Generationen? Dann brauchen wir eine dauerhafte Stabilisierung des Rentenniveaus. Schaffen wir mehr Gerechtigkeit in diesem Land, indem wir eben tatsächlich auch mal einen fairen Beitrag von den Reichsten in diesem Land einfordern? Dann brauchen wir eine Vermögensteuer, eine gerechte Erbschaftssteuer, aber auch eine einmalige Vermögensabgabe. Wie stellen wir sicher, dass wir ein bezahlbares Gesundheitswesen behalten?

Was ist denn mit Blick auf den Stellenabbau zu tun?

Wir brauchen eine aktive Industriepolitik, eine Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze sichert. Wir brauchen eine bessere Forschungsförderung, mehr Investitionen in Infrastruktur, steuerliche Abschreibungen für jene Unternehmen, die wirklich investieren – und nicht Steuergeschenke für alle Unternehmen, unabhängig davon, ob sie überhaupt die Standorte erhalten oder nicht. Wir brauchen den Ausbau von Elektromobilität und von erneuerbarer Energie. Wir brauchen aber auch Investitionen in eine ganze Reihe von anderen Zukunftsbranchen. Doch für diese Themen ist viel zu wenig Raum, weil es ständig ums Bürgergeld und Kürzungsdebatten geht. Das ist eine Politik, die an den Bedarfen der Menschen vollständig vorbeigeht – und ich kann die Bundesregierung nur davor warnen, diese Debatten weiterzuführen.

Warnen Sie vor allem auch die SPD, weil sie so weiter Wähler vergrätzen könnte?

Ich glaube, dass sich die Koalition insgesamt keinen Gefallen damit tut, dieses Thema so in den Mittelpunkt zu stellen. Denn sie verliert so ihre eigene Wählerklientel. Das gilt nicht nur für die SPD, sondern auch für die Union. Die Menschen erwarten, dass der Sozialstaat funktioniert – gerade in Krisenzeiten. Und wenn man sich nicht darum kümmert, sondern immer nur über Missbrauch redet, dann ist das das falsche Signal an die eigene Wählerschaft. Aber auch die Arbeitgeber tragen dazu bei, dass der Frust bei den Menschen zunimmt.

Inwiefern?

Unternehmen haben nicht ausreichend in Zukunftstechnologien investiert. Sie haben sich zu sehr auf Kostenbetrachtung fokussiert und darauf, wie man in den Lieferketten die billigsten Zulieferer beauftragt. Viele Firmen haben Managementfehler gemacht. Aber anstatt die selbst auszubügeln, stellen sie immer absurdere Forderungen an die Politik. Und wenn die so nicht kommen, dann sollen die Beschäftigten dafür zahlen, indem sie auf Lohn verzichten oder Arbeitsplätze gestrichen werden.

Wir steuern auf einen gesellschaftlichen Großkonflikt zu, wenn es so weitergeht. Wir haben es momentan mit einer neoliberalen Marktpolitik zu tun, die die hart erarbeiteten Sozialleistungen der Beschäftigten attackiert und gleichzeitig von ihnen erwartet, dass sie mehr arbeiten sollen und sich im Zweifelsfall damit abfinden, dass sie ihren Job verlieren. Wenn wir so weitermachen, dann bekommen wir gesellschaftliche Zerwürfnisse, auf die wir als Gewerkschaften auch entsprechend antworten werden. Ich will das nicht, aber wenn die Arbeitgeber sich nicht bewegen, wird das nicht abzuwenden sein.

Was heißt das – drohen Sie mit massenhaften Streiks?

Wir müssen derzeit schon in zahlreiche Warnstreiks gehen. Wir holen die Beschäftigten schon jetzt vor die Werkstore, um für Firmenstandorte zu kämpfen. Das passiert alles längst, aber das wird deutlich zunehmen, wenn die Arbeitgeber keine Einsicht zeigen.

Wir sind jederzeit bereit dazu, uns mit den Arbeitgebern an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam über die Sicherung von Standorten und kluge Investitionen zu reden. Aber dazu müssen uns die Arbeitgeber die Hand reichen. Das tun sie derzeit nicht.

Wenn Sie vor einem gesellschaftlichen Großkonflikt warnen, machen Sie dafür auch den Kanzler verantwortlich – wegen dessen Äußerungen zum Sozialstaat in den vergangenen Monaten?

Die meisten Menschen wollen eher mehr als weniger Investitionen in den Sozialstaat. Die Bundesregierung muss sich überlegen, für wen sie eigentlich Politik macht.

Und wenn der Fokus sozialer Reformen immer wieder nur auf angeblich massenhaften Leistungsmissbrauch erfolgt, dann bedient man die Diskurse der extremen Rechten. Diese Bundesregierung trägt bisher nicht dazu bei, die Debatten zu befrieden und einen neuen sozialen Konsens zu schaffen, sondern sie lässt zu, dass die extreme Rechte mit ihren Diskursen die Gesellschaft immer tiefer und tiefer spaltet.

Mit welcher Folge?

Ich kann nur davor warnen, die Debatte weiter zuzuspitzen. Diese ewige Spaltung unserer Gesellschaft wird nur dazu führen, dass sich am Ende jene machtpolitisch durchsetzen, die dieses Land radikal umbauen wollen. Diese Debatten über sozialen Kahlschlag müssen aufhören. Wir müssen uns endlich auf das konzentrieren, was dieses Land und die Menschen wirklich brauchen.

Die Debatten zu befrieden, wird die Regierung nicht alleine schaffen. Sie werden uns, die Arbeitnehmerseite, brauchen, aber auch die Arbeitgeberseite, damit wir Kompromisse mittragen. Dazu müssen wir mit am Tisch sitzen. Die Gewerkschaften stehen bereit.