Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963Porträt: Der letzte Ankläger

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Der pensionierte ehemalige Staatsanwalt Gerhard Wiese, fotografiert während eines Interviews mit der dpa in seinem Privathaus in Frankfurt. Der 94-jährige war Mitkläger bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und erzählt heute an Schulen von seinen Erfahrungen.

Der pensionierte ehemalige Staatsanwalt Gerhard Wiese. Der 94-jährige war Mitkläger bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und erzählt heute an Schulen von seinen Erfahrungen.

Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt der Prozess gegen frühere SS-Männer im KZ Auschwitz. Das Vernichtungslager wurde zur Chiffre der deutschen Schuld. Gerhard Wiese war damals einer der drei Staatsanwälte.

Berlin - Am Ende kämpfte Hans Hofmeyer mit seinen Tränen. Gerade hatte der Vorsitzende Richter im Verfahren „Strafsache gegen Mulka u. a.“ die Urteile des Landgerichts Frankfurt am Main gegen 20 Angeklagte verkündet und die Begründungen verlesen. Das reichte ihm jedoch nicht.

Der sichtlich erschütterte Jurist fügte persönliche Worte hinzu. „Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann“, meinte Hofmeyer, „ohne dass im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind.“

Auschwitz. Dieser Ort war im Verlauf dieses Verfahrens, das später nur noch erster Auschwitzprozess genannt wurde, weltweit zum Synonym für den industriellen Massenmord vor allem an Juden und Jüdinnen sowie Sadismus und unmenschliche Brutalität durch Deutsche geworden.

Zuchthaus für 16 Angeklagte

Der Prozess hatte am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer, dem Rathaus, begonnen. 18 Jahre waren nach dem Krieg vergangen. Er endete am 20. August 1965 nach 183 Verhandlungstagen und der Befragung von 360 Zeugen – darunter mehr als 200 ehemalige Häftlinge, aber auch SS-Schergen wie der ehemalige Kommandeur der Sicherheitspolizei in Kattowitz, Johannes Thümmler, Vorsitzender eines SS- und Polizei-Standgerichts im Lager Auschwitz.

Polen, Oswiecim: Der Schriftzug „Arbeit macht frei“ ist am Tor zum früheren Konzentrationslager Auschwitz I zu sehen.

Vor 60 Jahren begann in Frankfurt der erste Prozess in der Bundesrepublik um denMassenmord in Auschwitz. (Archivbild)

16 Angeklagte erhielten Zuchthausstrafen: sechs lebenslang, die anderen zehn mit Haftzeiten zwischen 3,25 und 14 Jahren. Ein Mann wurde zu zehn Jahren Haft als Jugendstrafe verurteilt. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Der erste Auschwitzprozess gilt heute noch, 60 Jahre nach seinem Beginn, als das wichtigste Strafverfahren der bundesdeutschen Justiz überhaupt.

Es ging um mehr in diesem Prozess als um ein Urteil. „Die Angeklagten stellten – abgesehen vom fehlenden Kommandanten – ein Abbild der Lagerhierarchie in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz dar: von Adjutanten der Kommandanten über Schutzhaftlagerführer, Rapport- und Blockführer, Angehörige der sogenannten Politischen Abteilung, Lagerärzte und -apotheker und Sanitätsdienstgrade bis zum Funktionshäftling“, berichtete FAZ-Journalist und Prozessbeobachter Peter Jochen Winters. „Auschwitz“ sei durch das Verfahren zur Chiffre der deutschen Schuld geworden, der Prozess selbst zu einer Wegmarke der deutschen Geschichte.

Tatsächlich klärte die westdeutsche Studentenbewegung in den 1960er-Jahren stärker als verwandte Bewegungen auf der Welt über die NS-Zeit auf und forderte eine vollständige Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft. Die Frage vieler Jüngerer an Eltern oder Großeltern lautete: „Wie habt ihr euch damals verhalten?“

Das Team von Fritz Bauer

Gerhard Wiese sitzt in seinem Ohrensessel und schaut, befragt nach der Szene bei der Urteilsverkündung, einen Moment lang scheinbar ins Leere. „Der Hofmeyer war ein guter Mann“, sagt Wiese. „Er hat den Prozess tadellos geführt, leicht war das nicht.“

Der 95-Jährige muss es wissen. Der frühere Staatsanwalt ist der letzte lebende Ankläger des ersten Auschwitzprozesses. Je näher der Jahrestag rückt, desto gefragter ist Wiese bei Reportern. Er stellt sich jedoch seit Jahren auch als Zeitzeuge Schulklassen oder Studierenden zur Verfügung. Warum? „Auschwitz darf nie wieder geschehen“, sagt Wiese.

Der legendäre hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte entschieden, dass Wiese – damals 34 Jahre alt – das Anklägerteam mit den beiden nur ein Jahr älteren Staatsanwälten Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel ab Sommer 1962 verstärken sollte. Der Grund: Die drei Juristen waren jung und damit unbelastet von der NS-Zeit.

„Ich bin gebürtiger Berliner“, erzählt Wiese in seiner Wohnung im Frankfurter Stadtteil Dornbusch. In der Hauptstadt hatte er mit 16 als Flak-Helfer das Ende des Dritten Reichs erlebt und war in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten.

Im Lager Fürstenwalde wurde er auf öffentlichen Aushängen das erste Mal mit Fotos und Berichten über Konzentrationslager konfrontiert, erzählt er. „Deutsche können das nicht gewesen sein, war ich mir damals sicher. So etwas machen wir nicht. Ich hielt es für russische Propaganda.“

Wiese, der seinen Traumberuf Apotheker wegen einer Tuberkuloseerkrankung aufgeben musste, begann in Berlin Jura zu studieren und legte sein Staatsexamen in Frankfurt am Main ab. Ab 1961 arbeitete er in der dortigen Staatsanwaltschaft. „Es ging um normale Strafsachen“, erinnert sich Wiese. „Ich ahnte nicht, dass ich es bald jahrelang täglich von morgens bis abends mit Mord und Totschlag zu tun bekommen würde.“

Als der junge Jurist zum Anklägerteam stieß, waren die Voruntersuchungen, die 1958 durch eine Anzeige gegen den früheren SS-Oberscharführer und Gestapo-Referatsleiter im KZ Auschwitz, Wilhelm Boger, ausgelöst worden waren, bereits abgeschlossen. „Es ging um das Formulieren der Anklageschriften. Wir teilten dafür die Angeklagten unter uns auf – und ich bekam die beiden schlimmsten.“ Es waren die Hauptbeschuldigten: Boger und der frühere Rapportführer im KZ Auschwitz, SS-Unterscharführer Oswald Kaduk.

Nach Boger, auch die „Bestie von Auschwitz“ genannt, wurde ein Folterinstrument benannt, das er bei Verhören einsetzte. Häftlinge wurden für die „Boger-Schaukel“ kopfüber an den Kniekehlen über eine Stange gehängt, Arme und angezogene Unterschenkel zusammengebunden. So fixiert, prügelte der Deutsche auf seine Opfer ein, viele starben. Im Auschwitzprozess beschrieben ehemalige Lagerinsassen einen Mithäftling nach der Folter zum Beispiel so: „Er hat nicht mehr wie ein Mensch ausgesehen.“

Grausamkeit gegen Kinder

Über Kaduk, der bei Fragen des Richters als einziger Angeklagter stets aufsprang und Haltung annahm, berichteten Prozesszeugen, dass er Gewehrbajonette aufstellte und Häftlinge zwang, so lange Kniebeugen zu machen, bis sie vornüber in die Klingen fielen. Auffällig wäre Kaduks Grausamkeit speziell bei Kindern gewesen.

Wiese seufzt. „Die Angeklagten, die bis zum Schluss weder zu ihren Taten standen, noch Reue zeigten, wirkten wie eine Ansammlung biederer Mitbürger. Das machte im Licht der Zeugenaussagen und belegbaren Taten ihren Schrecken aus. Dies veränderte wahrscheinlich die Sicht vieler Deutscher auf dieses düstere Kapitel der Geschichte, das bis dahin vor allem verdrängt worden war.“

Das aber, wofür der Name Auschwitz steht, werden Menschen kaum vergessen können, Deutsche nie vergessen dürfen.
Peter Jochen Winters, Prozessbeobachter

Bei den Deutschen, rekapituliert der Jurist, hatte sich das Gefühl verbreitet, „die Alliierten hätten uns mit den Kriegsverbrechertribunalen in Nürnberg, Rastatt und Metz die Arbeit abgenommen“. Das war ein Irrtum, so Wiese. „Die eigentliche Arbeit lag erst vor uns.“

Tatsächlich sorgte 1958 der Ulmer Einsatzgruppenprozess gegen zehn Männer des Kommandos Tilsit, das 1941 im litauisch-deutschen Grenzgebiet 5502 jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet hatte, für Aufsehen. Sämtliche Angeklagte waren nach dem Krieg in ein bürgerliches Leben zurückgekehrt. Dieser Prozess hatte das öffentliche Verdrängen und die Bemühungen um einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit, die vor allem von Kanzler Konrad Adenauer forciert worden waren, erheblich gestört. „Plötzlich“, erinnert sich Wiese, „sahen die Leute, dass unter ihnen noch etliche mit sehr viel Dreck am Stecken lebten.“

Gerechte Strafen?

Kaduk und Boger gehörten zu denen, die im ersten Auschwitzprozess als Exzesstäter zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Wiese war trotz der lebenslangen Strafen in dem Prozess unzufrieden mit dem Urteil. Hielt er die Strafen für nicht gerecht?

„Gerecht?“, Wiese schaut empört auf. „Wir hatten für alle lebenslang beantragt. Doch wahrscheinlich gibt es für solche Leute keine gerechte Strafe. Die Todesstrafe wäre wohl am angemessensten gewesen.“ Doch den früheren Anklägern um Fritz Bauer ging es um anderes, erläutert Wiese. Sie wollten, dass Auschwitz juristisch als ein einheitliches großes Verbrechen eingestuft wird und jeden der über die Jahre mehr als 6000 Bediensteten zum Mittäter oder Teilnehmer machen. Es hätte die folgenden Strafverfolgungen von NS-Tätern erheblich erleichtert. Doch das Schwurgericht lehnte ab.

Die Konsequenz war, dass jedem Angeklagten einzelne Taten nachgewiesen werden mussten. Vizelagerkommandant Robert Mulka erhielt deshalb ein Urteil für Einzeltaten, nicht jedoch für seine Tätigkeit als Organisator der Mordmaschinerie Auschwitz. Eine Revision der Staatsanwälte verwarf Karlsruhe. Nicht jeder, der „irgendwie“ tätig geworden sei, so Richter des Bundesgerichtshofs damals, könne für „alles“ Geschehene Verantwortung tragen.

2016 setzte sich Bauers Auffassung vom Verbrechenskomplex Auschwitz – der „größten Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten“, in der mindestens 1,2 Millionen Frauen, Männer und Kinder zu Tode gebracht wurden – durch. Vor sieben Jahren bestätigte der Bundesgerichtshof ein Urteil des Landgerichts Lüneburg, das gegen den damals 95-jährigen früheren SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum massenhaften Mord im NS-Vernichtungslager Auschwitz eine vierjährige Haftstrafe erlassen hatte. Auf den individuellen Tatnachweis könne verzichtet und Täter als „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ verurteilt werden, so die BGH-Richter nun.

Dass sich ihre Rechtsauffassung von 1963 doch noch durchsetzte, empfindet Gerhard Wiese bis heute als Genugtuung – „vor allem für Fritz Bauer“. Dass er neben den beiden Staatsanwälten Kügler und Vogel als Ankläger selbst Geschichte geschrieben hat, darum will Wiese nicht viel Aufhebens machen. „Ich bin froh, dass ich Gelegenheit hatte mitzuwirken.“

FAZ-Prozessberichterstatter Winters schrieb 1965 zu den Urteilen im Auschwitz-Prozess: „Der Frankfurter Auschwitz-Prozess ist zu Ende. Das aber, wofür der Name Auschwitz steht, werden Menschen kaum vergessen können, Deutsche nie vergessen dürfen.“

Gerhard Wiese macht sich Sorgen. Der Prozess habe auch ihm endgültig die Augen dafür geöffnet, dass eine Gesellschaft gewaltverherrlichenden Weltanschauungen oder religiösem Fanatismus und Rassenwahn rechtzeitig und entschieden begegnen müsse.

Gegenwärtig beobachte er, dass viele von der Politik unbeantwortete Fragen – „etwa zur Migration“ – die deutsche Gesellschaft spalten würden. „Radikalisierungen sind die Folge“, warnt der alte Mann. „Es ist fast so, als wären wir nicht fähig, aus der Geschichte zu lernen.“

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