Israelischer Historiker im InterviewTom Segev: „Die Brutalität gegen die Kibbuzim war bestialisch“

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Kibbuz Be'eri in Israel: Ein israelischer Soldat inspiziert ein zerstörtes Haus in einem Kibbuz, das von Terroristen der Hamas überfallen worden war.

Kibbuz Be'eri in Israel: Ein israelischer Soldat inspiziert ein zerstörtes Haus in einem Kibbuz, das von Terroristen der Hamas überfallen worden war. In den Siedlungen kam es zu brutalen Massakern durch die Terroristen.

Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren und lebt dort noch immer. Nach dem brutalen Hamas-Angriff fragt er: „Wie konnte das passieren?“

Herr Segev, was bedeutet der neue Krieg in ihrem Land für Ihren Alltag?

Segev: Jerusalem ist mehr oder weniger vor Angriffen geschützt, weil fast die Hälfte der Bevölkerung arabisch-muslimisch ist und hier heilige Moscheen stehen. Wahrscheinlich hat die Hamas Angst, sie zu beschädigen. Wenn es Angriffe gibt, gehe ich in den kleinen Schutzraum neben meiner Wohnung. Meine Kinder und Enkelkinder wohnen nur 40 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Sie müssen alle paar Stunden in den Keller. Und die Schulen sind geschlossen.

Wie ist Ihre Stimmung?

Ich bin noch immer schockiert und weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist eine fürchterliche Situation. Die Hauptfrage ist: Wie konnte das passieren? Das Schlimmste ist das Schicksal der Geiseln. Es sind auch noch nie an einem Tag über 1000 Israelis umgekommen. Ich denke viel an 1948, weil zum ersten Mal seither israelische Orte durch arabische Kräfte erobert wurden. Ich war damals drei Jahre alt, und mein Vater ist in diesem Krieg umgekommen.

Ein israelischer Soldat in zivil trauert am Grab seines früheren Kommandanten in Jerusalem.

Ein israelischer Soldat in zivil trauert am Grab seines früheren Kommandanten in Jerusalem.

Ich lebe mit diesem Konflikt also mein ganzes Leben lang. Ich denke aber ebenso an die palästinensischen Flüchtlinge. Viele von haben keinen Einfluss auf die Hamas und lieben sie vielleicht nicht besonders. Aber die Hamas ist eine sehr diktatorische Regierung. Da hat man nicht viele Wahlmöglichkeiten. Ich hoffe sehr, dass man alles tut, um das Leid der Flüchtlinge in Gaza zu verringern.

Sie fragen: Wie konnte das passieren? Viele Israelis denken, weil die Regierung versagt hat. Denken Sie das auch?

Ja, Netanjahu persönlich. Er hat das Konzept erfunden, dass es gut ist für Israel, wenn die Hamas Gaza unterdrückt und sich so tief wie möglich verzankt mit der Palästinenserverwaltung in Ramallah – nach dem Motto: Teile und herrsche. Darauf ist Netanjahu furchtbar stolz. Doch mit den Jahren hat ihm die Hamas eine lange Nase gedreht und jetzt viele Raketen, vielleicht auch mit Geld, das sie aus Europa bekam.

Die Brutalität gegen die Kibbuzim war bestialisch. In meinen Memoiren habe ich eine Passage geschrieben, in der steht, dass Israelis und Palästinenser vielleicht noch nicht genug gelitten haben und nur eine Katastrophe uns dazu bringt, alles neu zu überlegen.

Woran denken Sie konkret?

Ich denke an den Jom-Kippur-Krieg 1973, der zum Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten geführt hat. Nachdem Israel sehr schwer geschlagen war, haben die Israelis umgedacht. Damals hatten wir auch sehr viel anzubieten für den Frieden, den ganzen Sinai. Jetzt sehe ich schon seit langem nicht mehr, wie Israelis und Palästinenser zusammenleben können. Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine diplomatische Fiktion, die sehr bequem ist für alle Länder, damit sie irgendetwas sagen können. Tatsächlich gehen wir rückwärts. Der Konflikt dauert schon 100 Jahre an, und er wird immer schlimmer, meistens für die Palästinenser, weil sie schwächer sind. Es handelt sich um zwei Völker, die ihre Identität definieren durch jeweils das ganze Land. Ein Kompromiss würde bedeuten, dass beide Seiten einen Teil ihrer Identität aufgeben. Offenkundig haben wir noch nicht genug gelitten, um so weit zu kommen.

Halten Sie eine Bodenoffensive für richtig?

Mir ist nicht ganz klar, inwiefern die Bodenoffensive ein Ergebnis von klaren strategischen Überlegungen ist, oder ob sie ein Racheakt wäre, der aus dem Bauch kommt. Vielleicht nützt die Regierung die Gelegenheit auch für eine zweite Nakba.

Eine Vertreibung der Palästinenser, meinen Sie.

Die Situation in Gaza ist schon jetzt fürchterlich. Ein 14-jähriger Junge hat dort überhaupt keine Zukunft vor sich. Da kann es schon sein, dass er den Weg zur Hamas findet. Andererseits war dieser Terror dramatischer als der 11. September in New York, wenn man die Zahl der Opfer hochrechnet. In Deutschland wären das 10.000 Menschen. Wenn Sie Kinder sehen, die mit einem Strick zusammengebunden wurden und verbrannt sind, dann kommt der Holocaust in die Erinnerung. Das sind schon schlimme Tage.

Nochmal zurück zur Bodenoffensive. Sie sind also dagegen?

Ich sehe nicht, wie das Problem gelöst werden soll, wenn man eine Million Palästinenser in die Wüste jagt. Und wie soll das Leben danach weitergehen? Außerdem gibt es immer noch die Gefahr, dass der Krieg sich ausweitet, etwa nach Norden, mit dem Libanon. Ich war früher mal sehr optimistisch. Jetzt bin ich sehr pessimistisch. Aber vielleicht irre ich mich wieder.

„Was erwarten Sie in dieser Lage von Deutschland?“

Ich hoffe, dass Deutschland eine Rolle spielen kann bei der Befreiung der Geiseln. Es gibt ja auch mehrere Deutsche und Doppelstaatler unter ihnen. In den letzten Jahren haben sich eine Million Israelis eine europäische Staatsbürgerschaft beschafft. Wenn man sie fragt, warum, dann antworten diese Menschen: Man kann ja nie wissen, was passiert, für die Kinder vielleicht. Das zeigt, wie tief die Holocaust-Erinnerung in so vielen Israelis sitzt. Gestern war ein Mann im Fernsehen zu sehen, dessen Frau und zwei Kinder unter den Geiseln sind. Auf einmal holte er einen deutschen Pass raus und sagte: Die Deutschen müssen uns retten. Wenn Sie das historisch betrachten, dann ist das alles schon ziemlich fürchterlich.

Was könnte Deutschland noch tun?

Vielleicht kann Deutschland gemeinsam mit den USA einen Waffenstillstand mit der Hamas vereinbaren. Das würde ich sehr begrüßen – auch wenn damit das Ziel, die Hamas zu vernichten, nicht erreicht würde. Ich wäre auch dafür, Hamas-Leute gegen Geiseln auszutauschen.

Rechnen Sie mit israelischen Flüchtlingen?

Nein, im Gegenteil, es gibt jetzt eine große Welle von Patriotismus und Zusammenhalt – und viele Israelis, die aus aller Welt nach Israel zurückkehren. Sie wollen jetzt zu Hause sein.

Zur Person: Der israelische Historiker Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren und lebt dort noch immer. Seine Eltern flohen 1933 vor den Nationalsozialisten nach Palästina. Im vorigen Jahr erschien in Deutschland Segevs Buch: „Jerusalem Ecke Berlin“.

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