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Interview zu Missbrauchsfällen„Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche“

Lesezeit 8 Minuten
Bischof aus Hildesheim

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer.

  • Der neue Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer trat ins Amt, als gerade die Studie zum Missbrauchsskandal veröffentlicht wurde.
  • Im Interview spricht er darüber, wie die Kirche die Fälle angeht und was sich ändern müsste.

Köln – Herr Bischof, Sie stehen seit 100 Tagen an der Spitze des Bistums Hildesheim. Was beschäftigt Sie am meisten?

Ich war kaum im Amt, da kam die Studie zum Missbrauchsskandal heraus. Wir kreisen in der deutschen katholischen Kirche seitdem um wichtige organisatorische Fragen wie Anlaufstellen für Opafer, Präventionsstandards und vieles mehr. Aber wir nehmen das Problem von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch in der Kirche immer noch nicht ernst genug.

Was hieße, das Problem ernst zu nehmen?

Alles zum Thema Stiftung Warentest

Ich glaube, der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche. Wir können das nicht mehr als peripher abtun, sondern müssen radikal umdenken. Bisher aber fehlt es uns an jeglicher Idee, welche Konsequenzen das für die Theologie haben muss.

Welche Idee haben Sie?

Für das Selbstverständnis der Kirche ist der Missbrauchsskandal eine Erschütterung, deren Tragweite ich mit der Eroberung und Plünderung Roms durch die Westgoten unter Alarich im 5. Jahrhundert vergleichen würde. Danach geriet die frühe christliche Theologie in eine Sinnkrise: Wie konnte Gott es zulassen, dass das Zentrum der Christenheit von heidnischen Barbaren heimgesucht und verwüstet wurde? 1300 Jahre später, im Zeitalter der Aufklärung, stellte sich dann nach dem großen Erdbeben von Lissabon 1755 verschärft das Problem der „Theodizee“, der Frage nach Gottes Allmacht und dem menschlichen Leid. Und ich glaube, die Kirche ist heute in einer ähnlichen und vielleicht sogar noch dramatischeren Situation, weil das Übel diesmal von ihr selbst ausgegangen ist.

Was folgt für Sie daraus?

Wir werden den Glauben an die „heilige Kirche“ in Zukunft nur noch dann redlich bekennen können, wenn wir mitbekennen: Diese Kirche ist auch eine sündige Kirche.

Schon die Kirchenväter nannten die Kirche eine „keusche Hure“ (casta meretrix).

Ja, aber dieser paradoxe Begriff kam der herrschenden Lehre später unerhört und unerträglich vor. Deswegen ging dieser Gedanke verloren. Stattdessen wurde gesagt: Es gibt in der Kirche die Einzelnen als Sünder. Aber die Kirche an sich ist rein und makellos. Davon müssen wir uns verabschieden und zur Kenntnis nehmen, dass es „Strukturen des Bösen“ in der Kirche als Gemeinschaft gibt.

Der Theologe Eugen Drewermann hat dazu schon vor 40 Jahren eine gleichnamige Trilogie geschrieben.

Ich habe das alles gelesen. Heute muss man sagen, es war prophetisch. Genau wie Drewermanns Buch „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“. Eugen Drewermann ist ein von der Kirche verkannter Prophet unserer Zeit.

Ein Prophet?

Propheten waren schon in der Bibel Menschen, die ungeschminkt die Wahrheit sagten – und dafür ins Abseits gedrängt oder gar mundtot gemacht wurden. Wir brauchen auch heute solche Männer und Frauen, die uns Bischöfen auf die Füße treten, und mag das noch so wehtun. Zu ihnen zähle ich zum Beispiel auch Pater Klaus Mertes, der 2010 den Missbrauchsskandal in Deutschland öffentlich gemacht und dafür viel Prügel bezogen hat. Zu Unrecht! Mertes mahnt uns bis heute unablässig, dass wir die Perspektive der Betroffenen einnehmen müssen – eine „Option für die Leidenden“, wie es Jean Vanier formuliert hat, der Gründer der „Arche“-Bewegung. Der Schrei der Opfer zwingt die Kirche zur Umkehr – im strengen Sinn des Wortes „Kehre“. Wir brauchen einen radikalen Wandel, einen neuen, unverstellten Blick auf unsere Wurzel, unseren Ursprung: das Leben und die Botschaft Jesu. Und können nicht mehr weitermachen wie bisher.

Konkretisieren Sie bitte, was Sie mit Kehrtwende meinen!

Alle Selbstherrlichkeit, alles Anspruchsdenken muss fallen. Wir Bischöfe sitzen für mein Empfinden immer noch zu sehr auf dem hohen Ross. Wir müssen davon herunterkommen: nicht mehr von oben herab, von oben nach unten, sondern auf Augenhöhe mit den Menschen. Und selbst das ist mir noch zu wenig. „Face to Face“ reicht nicht. Es braucht ein „Side by Side“. Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist, hat Dietrich Bonhoeffer gesagt. Wir sind nur Kirche, wenn wir an der Seite der Menschen sind, im Schulterschluss mit ihnen. In der Bibel steht, wie das geht. Wir müssen es nur lesen und beherzigen.

Und dann?

Ich denke bisweilen: Wer bestimmt eigentlich, was katholisch ist? Wir tun immer noch so, als wäre das die Hierarchie; als hätten wir Bischöfe das Recht auf das Label katholisch. Falsch! Wir sind nicht die katholische Stiftung Warentest. Wir müssen Empfänger sein, Hörende, Lernende im Gespräch mit den Katholikinnen und Katholiken, aber auch mit Christen anderer Konfessionen und den Nichtglaubenden. Wenn uns das theologisch klar ist, liegen im Missbrauchsskandal auch die Konsequenzen auf der Hand: Um das Böse in der Kirche einzudämmen, brauchen wir eine wirksame Kontrolle der Macht in der Kirche. Wir brauchen Gewaltenteilung, wir brauchen ein System von „Checks and Balances“.

Planen Sie so etwas?

Es führt gar kein Weg daran vorbei. Wenn ich von Kardinal Gerhard Müller höre, Laien könnten nach der heiligen Ordnung der Kirche nicht über geweihte Amtsträger urteilen, dann kann ich nur sagen: Das stimmt so nicht. In den ersten Jahrhunderten wurden immer wieder Diakone und Priester vom Volk per Akklamation zum Bischof gewählt; in Köln, wie Sie wissen, lehnten sich die Bürger im Mittelalter mehrfach gegen die Macht ihrer Erzbischöfe auf und erkämpften sich 1288 in der Schlacht von Worringen die Freiheit von ihrem Lehnsherrn. Es gab in der Kirche weitaus mehr Formen der Partizipation als wir heute praktizieren. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Opfer eigener Geschichtsvergessenheit werden

Reden wir von einem zentralen Begriff in der Kirche: Schuld. Haben Sie im Missbrauchsskandal Schuld?

Ich, Heiner Wilmer, bin mir keiner persönlichen Schuld bewusst, weil ich kein Täter bin. Aber ich sage trotzdem: Ja, ich habe Schuld, weil ich zur Täterseite gehöre.

Als ich vorhin hier eintraf, habe ich mich entschuldigt, weil ich zu spät war. Nur lag das an der Bahn, ich konnte nichts dafür. Was soll dann die Bitte um Entschuldigung? Ist das aber jenseits der bloßen Höflichkeitsfloskel – nicht auch die Frage im Missbrauchsskandal? Wer genau ist schuld, wer bittet wen um Entschuldigung?

Entschuldigung, Entschädigung, Vergebung sind wichtige Begriffe. Ich halte sie gleichwohl für problematisch, und zwar alle drei. Es gibt im strengen Sinn kein Ent-Schulden, keine Ent-Schädigung. Die Schuld, der Schaden bleiben bestehen im Leben der Opfer. In den USA bezeichnen sich manche von ihnen als „survivors“, Überlebende. Wenn dann in dem – vielleicht verständlichen – Wunsch nach Vergebung auch nur die Spur eines moralischen Anspruchs mitschwingt („als Christen sollten wir vergeben können“), ist das ein schlimmer Mangel an Respekt und Sensibilität. Ich verstehe, wenn die Opfer sagen: „Nein, ich kann nicht vergeben, was mir angetan wurde.“ Übrigens erkennt auch die Bibel diese Realität sehr wohl an, etwa wenn es im Buch Exodus heißt, die Sünde der Väter wirke fort bis in die dritte und vierte Generation.

Die Vergangenheit wirft in Hildesheim lange Schatten – auch auf das Bischofshaus. Sie waren der erste Bischof in Deutschland, der öffentlich und konkret Verfehlungen seiner Vorgänger festgestellt hat. Nun könnte man sagen, Sie machen es sich leicht, weil beide tot sind…

Es stimmt: Ich habe Versagen benannt, so weit es sich mir als solches darstellt. Und ich habe es als Versagen meiner Vorgänger benannt. Das ist nicht leicht. Ich bin nicht Richter über die Lebenden und schon gar nicht über die Toten. Ich glaube aber, es gehört zur Wahrhaftigkeit. Andererseits wird es uns jetzt nicht helfen, nun andauernd Namen und immer noch mehr Namen zu nennen. Das Schuldbekenntnis in der Messe lautet: „Ich bekenne, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe…“ Es heißt nicht: „Ich bezichtige andere.“ Das Allerbeste – vor allem im Sinne der Opfer – wäre es, wenn die Täter selbst und ebenso diejenigen, die sie gedeckt oder die Opfer vernachlässigt haben, sich dazu bekennen würden. Aber das sagt sich leichter, als es manchmal ist.

Woran denken Sie?

Im Fall des Missbrauchstäters Peter R. verschlägt es mir immer noch die Sprache, wenn ich daran denke, dass hier in Hildesheim zumindest seine letzten Verbrechen hätten verhindert werden können. Der zuständige Personalchef unter Bischof Homeyer wollte R. offenbar aus dem priesterlichen Dienst entfernen. Aber am Ende haben sich wohl einige Gemeindemitglieder beim Bischof durchgesetzt, die sagten, man könne doch nicht so herzlos mit diesem hochverdienten Priester umgehen.

Da sind wir wieder beim Thema Schuld. Sie sehen daran, wie ungerecht es wäre, zu sagen: „Dieser eine hat Schuld.“ Die Wirklichkeit ist viel komplexer.

Aber aus der Bischofskonferenz mit ihren fast 70 Mitgliedern hat sich noch kein einziger zu einem konkreten Versagen bekannt, so wie Sie es gerade nahegelegt haben. Schon rechnerisch kann da etwas nicht stimmen.

Die Wahrheit ist der erste Schritt zur Gerechtigkeit. Beides schulden wir den Betroffenen. Ihnen gegenüber haben wir die Bringschuld. Das muss unsere Perspektive, unser Interesse sein, nicht so sehr das Bemühen um die Rückgewinnung unserer Glaubwürdigkeit als Kirche oder um neues Vertrauen und Gehör. Das darf bestenfalls ein Kollateralnutzen sein, aber nicht unser erstes Ziel. Gerechtigkeit für die Opfer, das ist es. Deshalb werde ich in der Forderung nicht nachlassen, dass wir alles Geschehene aufdecken und aufklären, so gut wir können. Mit mir wird es kein klammheimliches Verschwindenlassen in irgendwelchen Schubladen geben. Wir brauchen auch dringend so etwas wie Wahrheitskommissionen. Das sehe ich gerade an den Fällen, über die wir hier im Bistum Hildesheim diskutieren.

Sie meinen den Missbrauchsvorwurf gegen ihren 1988 verstorbenen Vorgänger, Bischof Heinrich Maria Janssen. Auch hier: Ein Toter kann sich nicht mehr wehren…

Deshalb wird eine Gruppe von Forensikern, Kriminologen und Historikern die damaligen diözesanen Strukturen und die Rolle von Bischof Janssen unabhängig aufarbeiten.

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Domhof bin ich durch eine Straße gekommen, die nach Bischof Janssen benannt ist. Was denken Sie, wenn Sie heute dort entlanggehen?

Nicht nur hier gibt es solche Straßen, auch andernorts, zum Beispiel in Duderstadt. Dort wurden erste Forderungen nach Umbenennung laut. Das ist Sache der jeweiligen Kommunen. Ich warte die Ergebnisse der externen Untersuchung ab.

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