Joachim Gauck im Interview„Ich wusste, was Putin will“

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Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident, in der Gedenkstunde des Berliner Abgeordnetenhauses zum Volksaufstand von 1953 in der DDR.

Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident

Der Altbundespräsident erklärt im Vorfeld seines Themenabends bei der phil.Cologne, warum sich viele im russischen Präsidenten getäuscht haben, und was CDU/CSU dafür tun müsste, AfD-Anhänger zurückzugewinnen. 

Herr Gauck, Ihr Lebensthema ist die Freiheit. War sie in der Zeit, die Sie überblicken, je so bedroht wie heute?

Als ich jünger war und in der Diktatur lebte, war sie natürlich deutlich bedrohter: Sie war politisch so gut wie nicht existent. Und es gab Phasen des Kalten Kriegs, in denen die Freiheit des Westens durch die mit missionarischem Eifer betriebene Ausdehnung des Kommunismus sehr bedroht war. Aber überwundene Krisen bewertet man rückschauend gern milder, während aktuelle Krisen schwerer wiegen. Aber auch ohne diese Verschiebung in der Wahrnehmung erschreckt mich die gegenwärtige Lage.

Sind Sie „erschüttert“, wie der Titel Ihres neuen Buches es nahelegt?

Meine persönliche Verfassung entspricht dem nicht ganz, aber zumindest in Teilen. Ich bin ein Mensch der Zuversicht und deshalb ziemlich sicher, dass nicht all das eintreten wird, was unsere Ängste uns einflüstern. Was die innere Gefährdung der Demokratie betrifft, hat mich am meisten die Wahl Donald Trumps erschüttert. Man konnte daran die Instabilität eines lang bewährten Gemeinwesens erkennen. Eine solche Gefährdung der Freiheit aus der Freiheit selbst heraus hatte ich zuvor nicht so deutlich gesehen.

Wir sollten diejenigen, die unsere liberale Demokratie ablehnen, nicht größer machen, als sie tatsächlich sind.
Joachim Gauck

Was ist Ihre Konsequenz mit Blick auf die Bedrohungen der Demokratie in unserem Land?

Ich plädiere für einen doppelt geschärften Blick: Wir sollten diejenigen, die unsere liberale Demokratie ablehnen, nicht größer machen, als sie tatsächlich sind. Aber wir sollten über das Erstarken dieser Kräfte auch nicht hinwegsehen.

Werden Systemgegner aus der sogenannten Reichsbürger-Szene mit ihren Staatsstreich-Fantasien gerade „größer gemacht, als sie sind“?

Von dieser und anderen Gruppierungen geht zwar eine Gefahr aus, aber sie sind nicht die eigentliche Gefahr für diese Gesellschaft.

Was ist dann die eigentliche Gefahr?

Der innere Abschied von der Demokratie der Bevölkerungsgruppe, die mit der Moderne fremdelt, mit ihrer Vielfalt, ihrer Ambivalenz und dem forcierten Wandel. Dieses Fremdeln führt zu einem Gefühl der Verunsicherung und Überforderung, ist die Unterströmung unter den aktuellen politischen Konflikten, die viele Menschen in die Fänge rechtspopulistischer, nationalistischer Parteien treibt. Wenn die demokratischen Parteien darauf nicht reagieren, werden diese Menschen politisch heimatlos. Und kommt dann noch eine akute Krise hinzu, verstärkt sich eine Fluchtbewegung dorthin, wo vermeintlich Sicherheit winkt. Freiheit scheint dann auf einmal nicht mehr so wichtig. Im Gegenteil: Autoritäre Führung gilt als wünschenswert, und konservative Wertvorstellungen driften ab ins Reaktionäre.

Auf meine alten Tage, merke ich, rede ich häufiger von Verteidigung.
Joachim Gauck

Was ist denn Ihr Gegenmittel?

Ich setze auf die Stärke des Individuums, das sich bewusst macht, welche Räume und Möglichkeiten ihm die Demokratie bietet. Ich lade immer dazu ein, sie mit anderen Gesellschaftsentwürfen zu vergleichen. Schaut euch in Gegenwart und Vergangenheit um: Wo sonst könnt ihr in einem so geachteten, rechtssicheren und wohlhabenden Land leben? Und mein Anliegen ist es, deutlich zu machen, dass eine freiheitliche, in Verantwortung verbundene Gesellschaft etwas Schützens- und Verteidigenswertes ist. Auf meine alten Tage, merke ich, rede ich häufiger von Verteidigung.

Besonders seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine?

Einen solch menschenverachtenden Machteinsatz eines imperialistischen Staates gegen einen anderen im 21. Jahrhundert erleben zu müssen, ist tatsächlich noch erschütternder als die Herausforderungen für die Demokratie im Inneren.

Ich hatte immer einen klaren Blick auf den 'homo sovieticus'.
Joachim Gauck

Sie nennen Ihr Buch auch eine Form der Selbstvergewisserung und sprechen von einer eigenen Lernkurve. Welche ist das?

Ich hatte immer einen klaren Blick auf den „homo sovieticus“, auch in der postkommunistischen Moskauer Welt. Ich kann diesen Menschentypus buchstäblich lesen, der eine Lektion zutiefst verinnerlicht hat: Wenn du einmal Macht errungen hast, dann gib sie nie, nie wieder her!

Und das haben Sie bei Wladimir Putin gesehen?

Ja, selbstverständlich. Putin ist ein Gewächs des KGB, der durchdrungen war von einer Arroganz der Macht, schlimmer als im Zarismus. Hätte Karl Marx das erlebt, würde er weniger von der Entfremdung des Menschen durch den Besitz an Produktionsmitteln geschrieben haben, sondern von der Entfremdung durch die Absolutsetzung von Macht. Wer wie Putin im KGB groß geworden ist, hat sein Gewissen einst eingetauscht für die Loyalität gegenüber den Machthabern. Wie er seine Macht heute ausübt, erinnert an die Herrschaftstechnik seiner früheren Herren. Und wer es mit ihm zu tun bekommt, muss wissen: Das ist kein normales Gegenüber.

Auch achtenswerte Menschen machen Fehler, weil sie ihr Gegenüber so nehmen, als wäre es wie sie.
Joachim Gauck

Dieses Bewusstsein ist den Politikern, die auf eine Partnerschaft mit Putins Russland gesetzt haben, verloren gegangen?

Das ist Teil meiner Kritik, die mir schwerfällt. Ich kritisiere ja Persönlichkeiten, die ich durchaus achte und die demokratisch gewählt wurden. Aber auch achtenswerte Menschen machen Fehler. Und warum? Weil sie an friedfertige Intentionen auch der politischen Kontrahenten glauben und ihr Gegenüber so nehmen, als wäre es wie sie. In Putins Fall hat das zu einem Wirklichkeitsverlust aus Wunschdenken geführt: Es wurde nicht erkannt, wie aus einem Partner ein Gegner und letztendlich ein Feind wurde.

Das trifft aber doch auch die Regierenden in Ihrer Amtszeit als Präsident. Hätten Sie ihnen nicht damals das sagen müssen, was Sie heute schreiben?

Sicher gab oder gibt es auch bei mir Reste von Wunschdenken. Mit Blick auf Putin wusste ich um seine Aggressivität. Aber ich habe – Stichwort Lernkurve - nicht geglaubt, dass er es auf die ganze Ukraine abgesehen hat.

Ich dachte: So dumm kann Putin nicht sein, sich auf etwas einzulassen, für das sein Land einen unendlich hohen Preis bezahlen müsste.
Joachim Gauck

Auch als er schon seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen hatte?

Selbst da dachte ich noch: „So dumm kann er nicht sein, sich auf etwas einzulassen, für das sein Land einen unendlich hohen Preis bezahlen müsste.“ Und außerdem habe ich mich als Präsident durchaus zu Wort gemeldet, habe etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 angemahnt, dass Deutschland seine Verantwortung in der Welt „erwachsener“ und entschlossener wahrnehmen müsse, auch militärisch. Ich bin im Februar 2014 nicht zu den Olympischen Winterspielen nach Sotschi gefahren – als sie endeten, begann die Besetzung der Krim. Und nach der Krim-Annexion habe ich auf der Westerplatte in Polen am Jahrestag des Weltkriegsbeginns am 1. September 1939 gewarnt, dass man den Appetit von Aggressoren nur vergrößert, wenn man sie ungehindert schlingen lässt. Für diese Stellungnahmen bin ich öffentlich zum Teil heftig angegriffen worden.

Aber wie muss man sich das vorstellen? Sie sitzen im Schloss Bellevue und haben das Gefühl: „Oh, das läuft nicht gut mit Putin. Die Kanzlerin und ihre Außenminister sehen nicht, was ich sehe.“ Ist das nicht schwierig?

Doch. Aber der Bundespräsident ist keine Ersatzregierung. Zu diesem Amt gehört Zurückhaltung gegenüber der operativen Politik und ebenso Demut. Ich verfüge zwar über ein relativ stabiles Selbstbewusstsein, aber einen Hang zum Übermut habe ich als Präsident – vielleicht auch aufgrund meines Alters – nicht entwickelt.

Die Deutung 'Gauck contra Merkel' war medial en vogue. Sie war aber falsch.
Joachim Gauck

Sondern?

Ich habe mich sehr wohl zu heiklen Fragen geäußert – immer bemüht um Formulierungen, die gerade noch gingen. Beispiel: Als wir 2015 über Zuwanderung nicht nur lobende Worte finden mussten, habe ich gesagt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“

Das war nur wenige Wochen nach Merkels „Wir schaffen das“. Ein Kontrapunkt zur Kanzlerin?

Die Deutung „Gauck contra Merkel“ war damals medial en vogue. Sie war aber falsch. Mein Satz war gedacht als Brücke – als eine Einladung an die Öffentlichkeit: Wenn das Staatsoberhaupt sagt, „hier gibt es etwas, worüber wir reden müssen“, dann lasst uns die Debatten von den politischen Rändern und aus dem Stammtischmilieu heraus in die Mitte der Gesellschaft holen!

Und das wollen Sie jetzt als Redner und Autor tun?

Als Privatmann habe ich größere Freiheiten – und ich hoffe, was ich sage und schreibe, ist für die Debatten nützlich.

Stramme Rechtsradikale kannst du nur bekämpfen.
Joachim Gauck

Sie berufen sich auf Ralf Dahrendorf, der gesagt hat, wenn die etablierten Parteien bestimmte Themen mieden, könnten „Skrupellosere aus ihnen Kapital schlagen“. Das hat sinngemäß auch CDU-Chef Friedrich Merz als Parole für den Umgang mit der AfD ausgegeben. Ist er da erfolgreich unterwegs?

Im Prinzip braucht eine konservative Partei natürlich eine Strategie für traditionell denkende Menschen, so dass bei ihnen nicht das Gefühl aufkommt, im politischen Raum sei niemand so richtig für sie da. Ich meine damit natürlich nicht stramme Rechtsradikale. Die kannst du nur bekämpfen. Aber denen, die verunsichert sind durch die Moderne und durch den forcierten Wandel, denen musst du ein Angebot von Stabilität und Sicherheit machen, das einem konservativen Bürgertum vermittelt: „Leute, auch in einer Gesellschaft der Vielfalt dürft ihr euch zuhause fühlen und euer Lebensgefühl behalten.“

Worin sollte dieses Angebot bestehen? Nach den Umfragewerten für die AfD zu urteilen, hat die Union noch kein passendes gefunden.

Ich denke an einen positiven Begriff von Heimat, an einen Patriotismus, der nicht in dumpfen Nationalismus umschlägt, an eigene Erfahrungen mit Eingewanderten. Die rechte Balance zu halten, ist dort einfacher, wo die Menschen schon Erfahrungen mit Vielfalt und Wandel haben. Die Kölner sind da ein gutes Beispiel. Die haben begriffen: „Jeder Jeck ist anders“ – und das geht. Und dann braucht es noch einen Typus von Politiker, der dies authentisch und auch mit Charisma vertreten kann.

Es braucht einen Kanon von Werten und Normen, der für alle gleichermaßen verpflichtend ist.
Joachim Gauck

Sehen Sie da in der Union jemanden?

Das Problem stellt sich ja nicht nur der Union. Denken Sie daran, dass die SPD vor 15, 20 Jahren auf der linken Seite auf einmal eine Repräsentanz-Lücke hatte, in die ein charismatischer Politiker wie Oskar Lafontaine mit der Linkspartei stoßen konnte. Die SPD stand dann vor der gleichen Schwierigkeit wie die Union heute: Sollte sie noch weiter nach links rücken – mit der Gefahr, dass die Wähler erst recht das „Original“ mehr goutieren würden als die „Kopie“?

Wenn Sie von Heimat oder Nation sprechen, geht es dabei nicht nur um Gefühle, sondern auch um Normen oder Werte, die sich mit solchen Begriffen verbinden. Wollen Sie auf so etwas wie Leitkultur hinaus?

Das Wort ist inzwischen verpönt, aber wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vom „Kitt“ für die Gesellschaft spricht, dann geht es natürlich um etwas, was für alle gilt. Es braucht diesen Kanon von Werten und Normen, der für alle gleichermaßen verpflichtend ist. Das heißt zum einen, dass niemand aufgrund seiner Herkunft, Religion oder sonstigen Gründen ausgeschlossen werden darf und zum anderen darf sich auch niemand selbst ausschließen, in dem er diese Normen und Werte nicht achtet. Auch in einer freiheitlichen Gesellschaft kommen die Rechte nicht ohne Pflichten daher.

Die Verfassung, Recht und Gesetze wären dann das Gemeinsame, das alle bejahen müssten. Aber ist das, was Sie Heimatgefühl oder Patriotismus sprechen, nicht noch mehr?

Ich habe als Präsident häufig danach gesucht, was es darüber hinaus ist, und mich gescheut, es zu definieren. Du gerätst dann nämlich leicht auf eine abschüssige Bahn mit der Versuchung, eigene kulturelle oder auch religiöse Prägungen als allgemeingültig zu definieren. Das möchte ich nicht. Ich möchte die Andersartigkeit des anderen nicht löschen. Die aufnehmende Gesellschaft sollte die Eigenheiten der Hinzukommenden ohne Aggressivität und Ressentiment annehmen und auch zu schätzen wissen.

Die Hinzukommenden aber müssen Prägungen aufgeben, die im Widerspruch zu der hier geltenden Ordnung und der von ihnen ersehnten Freiheit stehen – einer Freiheit, die sie in ihren Herkunftsländern nicht genießen durften. Ein solches Zusammenleben, in dem sich die Verschiedenen entfalten können, gleichzeitig aber an die Grundrechte gebunden fühlen, lässt eine Bindung entstehen, die mehr ist als Verfassungspatriotismus. Es ist das Gefühl: Von uns allen hängt es ab, was aus diesem Land wird, das uns etwas bedeutet, weil es das unsere ist.

Zur Person

Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, war von 2012 bis 2017 der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. In der damaligen DDR arbeitete der studierte evangelische Theologe als Pfarrer. In der Wendezeit war er Abgeordneter in der freien Volkskammer. Von 1990 bis 2000 war er der erste Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen.

Joachim Gauck auf der phil.Cologne 2023

Am Freitag, 23. Juni, spricht Joachim Gauck mit Joachim Frank, Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“, über die Thesen seines neuen Buchs: „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht.“ gegenwärtige Erschütterungen der Demokratie. 23. Juni, 19.30 Uhr, Kulturkirche Nippes. Karten zu 24 Euro (Abendkasse 28 Euro) gibt es hier.

Der Abend ist eine Kooperation mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Wir verlosen 3x2 Karten. Interessierte senden bitte bis Freitag, 8 Uhr, eine E-Mail mit Angabe ihres vollständigen Namens an: ksta-kultur@ kstamedien.de

Die Gewinnerinnen und Gewinner werden am Freitagvormittag per E-Mail benachrichtigt und stehen abends auf der Gästeliste. (jf)

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