Kommentar zu 30 Jahre MauerfallEin Land? Ja, wir sind ein Land

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Die Mauer ist zwar noch da, aber auch schon weg. Unglaublich. Menschen sitzen gemütlich auf ihr. Noch unglaublicher.

  • Dreißig Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Und Deutschland ist zu einem Land geworden.
  • Doch ist die deutsche Einheit damit vollendet? Auf keinen Fall, kommentiert Carsten Fiedler, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“.
  • Es gibt eine Verantwortung, der wir uns alle stellen müssen.

Der 9. November 1989 war ein trüber Herbsttag, nicht nur in Berlin, sondern auch westlich von Köln, kurz hinter der niederländischen Grenze. Dort saß ich an diesem Donnerstag als 19-jähriger „Flieger“, also unterster Dienstgrad der Luftwaffe, um 20 Uhr mit einigen Kameraden in der Nassau-Dietz-Kaserne in Budel auf der Stube und guckte die Tagesschau. Sechs Wochen zuvor hatte ich meinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr angetreten.

Die Öffnung der Grenze verbinde ich mit der Stimme von Tagesschau-Sprecher Jo Brauner. Im offenen Sakko verlas er die unerhörte Meldung, die nichts anderes als Revolution bedeutete. Auf dem Mini-TV eines Stubenkameraden liefen die Bilder von der Pressekonferenz des Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski. Der Satz „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“, den Schabowski zur geplanten Reiseregelung des Zentralkomitees stammelte, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Er ist zu einem Stück deutscher Geschichte geworden.

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„Das trifft, nach meiner Kenntnis ...  ist das sofort, unverzüglich“, stammelt Politbüro-Mitglied Günter Schabowski  am 9. November 1989.

Die Mauer war durchlässig! Während Berlin und große Teile der Republik die größte Party der Nachkriegsgeschichte erlebten, fuhren wir Wehrpflichtigen übers Wochenende nach Hause. Am Montag kehrten wir verändert in die Kaserne zurück. Der Kalte Krieg war gefühlt vorbei, und wir fragten uns: Was machen wir noch hier?

Anderthalb Monate später fuhr ich mit Freunden über die offene Grenze. Wir feierten in Erfurt mit Gleichaltrigen, die wir auf der Straße umarmten, Silvester. Wir fuhren nach Dresden, wo wir abends wahllos an Haustüren klingelten und immer ein Bett bekamen. Allerdings redeten wir die Nächte fast immer durch. Mit unseren neuen Dresdner Bekannten liefen wir zur besetzten Stasi-Zentrale an der Bautzner Straße, wo Bürgerrechtler die Vernichtung der Stasi-Akten verhinderten. Es war unbeschreiblich.

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Die Berliner Straße des 17. Juni am Tag danach: Automassen schlängeln sich durch den Westteil der am Vortag noch  geteilten  Stadt.

Dreißig Jahre sind seitdem vergangen. Sind wir heute ein Land? Ja, das sind wir, trotz aller Probleme. Ist die deutsche Einheit vollendet? Auf keinen Fall.

Die Generationen Mauerbau und Mauerfall im Osten haben viel durchgemacht. Manches ist heute noch nicht verarbeitet. Als der Rausch nach der Wende 1989 verflogen war, verlor der Osten aus Sicht vieler Westdeutscher wieder an Bedeutung. Und bei den Ostdeutschen machte sich Ernüchterung breit. Zwar flossen Hunderte von Milliarden Euro Aufbauhilfe West – dennoch bedeutete die Einheit für viele den Verlust von Job und sozialem Halt. Die 90er Jahre waren die Zeit der Klischees: Vom „Jammerossi“, der zum Opfer der „Besserwessis“ wurde. Die Ostdeutschen hatten das Gefühl, für den historischen Moment das Unmögliche getan zu haben. Die Westdeutschen aber schienen nur einfach „weiter so“ machen zu wollen.

Und heute? Scheinen Ost und West auf den ersten Blick wieder so entfremdet zu sein wie in den 80er Jahren. Die aktuelle Debatte wird von den Konflikten beherrscht: Der Streit über die Abschaffung des Soli. Die Kluft bei der Verteilung von Eigentum und Vermögen. Die Dominanz der Westdeutschen in den Eliten. Die aus Sicht des Ostens vom Westen beanspruchte Deutungshoheit über die Einheit. Das Entsetzen im Westen über fremdenfeindliche Demos im Osten. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall wird in den Köpfen neuer Beton angerührt. Neue Mauern drohen zu wachsen. Das darf nicht passieren.

Der Mauerfall war und bleibt der glücklichste Moment im Nachkriegsdeutschland. Doch wie lässt sich diese Erfolgsgeschichte weitererzählen? Wir können dies doch nicht jenen überlassen, die sie für den Kampf gegen die Demokratie und für pures Machtstreben instrumentalisieren – wie beispielsweise die AfD.

Woran es fehlt, ist der Wille, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich verstehen zu wollen. Wenn wir uns wirklich wieder zuhören, merken wir vielleicht auch, dass sich nicht jeder „Ossi“ die DDR zurückwünscht und nicht jeder „Wessi“ meint, alles besser zu wissen.

Die Wiedervereinigung war ein gigantisches ökonomisches, soziales und politisches Projekt, bei dem der gesellschaftspolitische Teil – das Zusammenwachsen, das Einander-ernst-Nehmen – zu kurz gekommen ist. Es ist allerhöchste Zeit, sich dieser gefährlichen Leerstelle anzunehmen. Diese Aufgabe geht uns alle an. Aber natürlich müssen auch Institutionen wie Regierungen, Parteien, Kirchen, Verbände deutlich mehr tun.

Sind wir ein Land? Ja, denn es gibt eine gemeinsame Verantwortung über alle Unterschiede hinweg – eine Verantwortung für ein demokratisches, positiv denkendes und solidarisches Deutschland. Dieser sollten wir alle gerecht werden. Ganz egal ob in Köln oder Görlitz.

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