Kommentar zu Demos gegen AfDEin besonderer Moment der Einigkeit, den es festzuhalten gilt

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Düsseldorf: Teilnehmer der Demonstration unter dem Motto „Gegen die AfD - Wir schweigen nicht. Wir schauen nicht weg. Wir handeln!“ stehen am 27. Januar auf den Oberkasseler Rheinwiesen.+

Düsseldorf: Teilnehmer der Demonstration unter dem Motto „Gegen die AfD - Wir schweigen nicht. Wir schauen nicht weg. Wir handeln!“ stehen am 27. Januar auf den Oberkasseler Rheinwiesen.

Auch in Ostdeutschland demonstrieren zahlreiche Menschen gegen den Rechtsruck. Das erfordert viel mehr Mut als in den westdeutschen Großstädten. 

Die Demonstrationen reißen überhaupt nicht mehr ab. Deutschlandweit gingen am Wochenende wieder Zehntausende auf die Straße, um ihren Widerstand gegen den erstarkenden Rechtsextremismus kundzutun. Es ist, als hätten zwischen Kiel und Konstanz sowie zwischen Aachen und Ahrensfelde Millionen Menschen hinter ihren Gardinen gesessen, seit langem bedrückt durch das Auftrumpfen der AfD und die Perspektiven für das laufende Wahljahr - und nur auf eine Initialzündung gewartet. Die in Potsdam geschmiedeten Deportationspläne waren diese Initialzündung.

Ebenso auffallend wie beglückend ist, dass sich die Proteste gleichmäßig über das Land verteilen. Bürger in den Großstädten erheben sich. Doch jene in Klein- und Mittelstädten tun es auch. Ja, es scheint, als wolle sich noch das kleinste Dorf nicht nachsagen lassen, Entscheidendes versäumt zu haben. Was für Stadt und Land gilt, gilt ebenso für Ost und West. Die Demokraten präsentieren sich einig. Das ist ein außergewöhnlicher Moment, den es festzuhalten gilt.

Dabei ragen die Demos in Ostdeutschland aus drei Gründen heraus: Weil die AfD hier gemeinhin stärker und die Zivilgesellschaft schwächer ist – und weil es in Regionen mit militanter rechtsextremer Szene viel mehr Mut erfordert, zu seinen Überzeugungen zu stehen, als in Berlin oder Leipzig. Umso mehr Achtung haben die Demonstranten dort verdient.

AfD kapert Slogan „Wir sind das Volk“

Die West- und die Ostdeutschen haben die parlamentarische Demokratie, wie wir sie heute kennen, auf sehr unterschiedliche Weise erfahren. In der alten Bundesrepublik ging sie nach 1949 mit raschen Wohlstandsgewinnen einher und fand nicht zuletzt deshalb Akzeptanz. In den gar nicht mehr neuen Bundesländern war das nach 1989 bekanntlich umgekehrt. Dort war Massenarbeitslosigkeit gepaart mit sozialer Verunsicherung. Überdies war die westdeutsche Dominanz in diesem Prozess problematischer, als es die meisten Westdeutschen bis heute wahrhaben wollen.

Die Abwehr wurde politisch zunächst von der PDS und später von der Linken artikuliert – bis diese ihrerseits als Teil des Establishments erschien und sich überdies zerstritt. Danach ging die Abwehrfunktion auf die AfD über. Nur so ist zu erklären, dass deren Anti-Demokraten sich die Parole der Friedlichen Revolution unter den Nagel reißen konnten: „Wir sind das Volk“. Das Auseinanderfallen der Demokratieerfahrung hat zur Entfremdung und Misstrauen zwischen Ost- und Westdeutschen beigetragen. Die an der Spitze oft von Westdeutschen dominierte AfD stand plötzlich als Ostpartei da.

Gegensatz zwischen Demokraten und Anti-Demokraten, nicht zwischen Ost und West

Die freche Behauptung „Wir sind das Volk“ wird nun protestierend aus den Angeln gehoben. „Das Volk“ gibt es ohnehin nicht. Was es gibt, ist eine nunmehr über 84 Millionen Menschen zählende Bevölkerung mit sehr verschiedenen Erfahrungen, Überzeugungen und Interessen, die in einem Prozess miteinander abgeglichen werden müssen, den man Demokratie nennt. Damit wird auch der latente Ost-West-Gegensatz mindestens abgemildert.

Deutlich sichtbar wird ein ganz anderer Gegensatz: der zwischen Demokraten und Anti-Demokraten. Die anhaltenden Demonstrationen in Ost- wie Westdeutschland werden die Wahlerfolge der AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen möglicherweise nicht verhindern. Doch sie schaffen objektiv eine neue Situation, weil die Kräfteverhältnisse unübersehbar hervortreten.

Die zurückliegenden Krisen haben die beiden Landesteile bedauerlicherweise weiter auseinandergetrieben: die Flüchtlingskrise, die Coronakrise, der Ukraine-Krieg. Bald 35 Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt sich, dass vielen Ost- und Westdeutschen die Demokratie gleich viel wert ist. Darauf lässt sich etwas bauen.

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