Kommentar zum Tag der Deutschen EinheitÜbersehen, falsch eingeschätzt, vom Tisch gewischt

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Reichstagsgebäude in Berlin.

Reichstagsgebäude in Berlin.

Mehr Einigkeit und Gemeinsamkeit in Deutschland – das muss das Ziel sein. Selbst wenn es keinen Feiertag zur Einheit des Landes gäbe.

Es war spektakulär, was da vor 33 Jahren geschehen ist. Friedlich, als Folge des Engagements und des Aufbegehrens von Bürgerinnen und Bürgerinnen, wurde die Teilung Deutschlands in zwei Staaten beendet, nach über 40 Jahren. Nicht einmal ein Jahr nach dem Fall der Mauer trat am 3. Oktober 1990 die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei.

Mehrere hundert Seiten hat der Einigungsvertrag. Aber das war nicht genug. Es blieben Lücken, manches wurde vergessen, übersehen, falsch eingeschätzt, vom Tisch gewischt. Manches braucht seine Zeit. Anderes lässt sich nicht in Paragrafen fassen: Gefühle, Erinnerungen, der Umgang miteinander. Brüche in Biografien, Entlassungen, die Brutalität der Goldgräber, die in den Osten ausschwärmten – all das sorgte für einen bitteren Beigeschmack.

Gleichzeitig wurde der gemeinsame Staat, wurde das Spektakuläre zur Normalität, zur Selbstverständlichkeit. Geblieben ist ein Feiertag, für viele vor allem eine willkommene Pause. In München lässt sich damit ganz praktisch das Oktoberfest ein paar Tage verlängern.

Geblieben ist der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der Jahr für Jahr aufs Neue festhält, dass es Fortschritte gebe beim Zusammenwachsen, dass aber noch einiges zu tun sei. So ist es: Es gibt Nachholbedarf bei Löhnen und Renten. Bei Spitzenposten in Politik, Forschung und Wirtschaft – also dort, wo Entscheidungen fallen – sind Ostdeutsche nach wie vor unterrepräsentiert. Wegen der Abwanderung sind ländliche Regionen in Ostdeutschland massiver vom demografischen Wandel betroffen. Für manche überwiegen nach wie vor oder wieder die Schmerzen oder die Sehnsucht nach einem früheren Leben.

Dennoch bleibt das Spektakuläre spektakulär, das Zusammenkommen eine Leistung, an der weiter gearbeitet werden muss. Eine Beziehung muss immer wieder neu und weiter ausgehandelt werden. Und wie immer führen Klischees und Pauschalurteile nicht weiter. Sie verbauen den Blick auf Erreichtes, auf andere Trennlinien und Gemeinsamkeiten.

Strukturschwache Regionen, mit wenig Arbeitsplätzen, schlechter Verkehrsanbindung und mehr Weg- als Zuzug, finden sich in ganz Deutschland. Es gibt Boom-Städte im Osten und Problem-Städte im Westen. Wer dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder zuhört, der regelmäßig den Rest der Republik zum Problem erklärt, muss überlegen, ob die Bundesregierung nicht auch einen Nord-Süd-Beauftragen bräuchte. Als verbindendes Element rückt der Kampf für die Demokratie in den Vordergrund, das wertvollste Gut des Landes.

Und wenn es um den Ausgleich von Nachteilen geht, um gleichwertige Lebensverhältnisse für alle, dann lassen sich auch andere Gruppen in den Blick nehmen: Menschen mit Behinderung, deren Zugang oft noch schon an Kleinigkeiten wie Rampen scheitert – von Vorurteilen mal ganz abgesehen. Von denen können auch Menschen mit Migrationshintergrund ein Lied mit vielen Misstönen singen. Das Leben von Alleinerziehenden ist oft ein besonderer Balanceakt, auf Verständnis und Unterstützung können sie nicht immer zählen. Die Reihe lässt sich fortsetzen.

Das Ringen um Einheit hat viele Dimensionen

Ökonomische Grundlagen helfen dabei, aber auch ein wertschätzender und vorurteilsfreier Umgang miteinander. Es braucht Selbstbewusstsein, Offenheit und die Bereitschaft, nach dem Möglichen und den Fähigkeiten zu fragen, statt sich gegenseitig Unvermögen und Versagen vorzuwerfen. Brüllen mag therapeutische Wirkung haben, eine Lösung findet sich dadurch selten.

Sicher ist: Wir alle könnten mehr Einheit und Gemeinsamkeit vertragen. Auch ohne Feiertag.

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