Kommentar zur DemokratieFreiheit neu definieren – sonst droht eine Eiszeit

Lesezeit 3 Minuten
ungarn proteste

Proteste in Budapest zum 66. Jahrestag der Revolution.

Köln – Die Temperaturen in Deutschland sind angenehm, fast spätsommerlich. Die politische Wetterlage dagegen macht frösteln – nicht nur wegen drohender Energie-Engpässe, sondern auch angesichts einer Eiszeit der Demokratie.

Autoritäre, ja diktatorische Regime sind auf dem Vormarsch. In Peking hat Xi Jinping seine Alleinherrschaft mit Vollmachten ausstatten lassen, gegen die der absolutistische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. als kleines Licht dasteht. Wladimir Putin bombt Freiheit und Menschenrechte in Grund und Boden. In Italien kehren Benito Mussolini und der Faschismus als historische Referenz für nationale Größe zurück ins Zentrum der Politik. Und in Großbritannien, dem „Mutterland der Demokratie“, gibt die Partei Winston Churchills ein erbarmungswürdiges Bild ab: Demokratie zum Abgewöhnen.

Begriffskosmetik, die eine Diktatur als „Volksdemokratie“ ausgibt wie in China oder den schwarzen Schimmel einer „illiberalen Demokratie“ (Ungarns Viktor Orbán) reitet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Weltmaßstab nur mehr eine Minderheit der Menschen jenes Maß an Freiheitsrechten genießt, die wir in Deutschland gewohnt sind und die nur scheinbar selbstverständlich sind.

Freiheit muss verteidigt werden

Carsten Fiedler

Carsten Fiedler ist Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Die Demokratie, die ihren Namen immer nur als freiheitliche Demokratie verdient, ist offenkundig von außen wie von innen bedroht. Sie bedarf des Schutzes. Freiheit muss verteidigt werden. Und zwar durch die demokratische Gesellschaft selbst. Niemand anderes wird ihnen diese Aufgabe abnehmen.

Den Einsatz dafür werden aber nur Menschen leisten, die einen Sinn darin erkannt haben. Deshalb muss ihnen der Wert der Freiheit immer wieder neu bewusst gemacht werden.

Bilanz der Long-Covid-Schäden für die Demokratie fehlt

Gerade Corona hat gezeigt, wie schnell Regierungen, aber auch Regierte bereit sind, Freiheiten zur Disposition zu stellen, um ein Stück – vermeintlicher – Sicherheit zu gewinnen. Eine ehrliche Bilanz der Long-Covid-Schäden für die freiheitliche Demokratie steht noch aus.

Eine Bedrohung von innen geht auch von den zunehmend unduldsam und aggressiv geführten Debatten über identitätspolitische Fragen aus. Gewiss: Minderheiten, die aus verschiedensten Gründen an ihrer freien Entfaltung gehindert waren und sind, verdienen Aufmerksamkeit und Schutz.

Identitätspolitik treibt Keil in die Gesellschaft

Aber der Einsatz für ihre Belange sollte mitnehmend, werbend sein. Stattdessen treibt ein Furor der Freiheit mit moralischen Urteilen über „gute“ und „schlechte“ Gesinnungen einen Keil in die Gesellschaft. Deren Bindekräfte werden so im Namen der Freiheit geschwächt, ihre Fliehkräfte verstärkt.

Das ist umso fataler, seit Putins Krieg und seine Folgen viele Menschen fragen lassen, was sie von einer Freiheit haben, die vielleicht Herz und Sinn wärmt, aber weder das Wohnzimmer heizt noch die Stromversorgung garantiert. Eine Parole wie „Kein Frieren für die Ukraine!“ mag einem atemberaubend kurzsichtig erscheinen. Bei genauerer Betrachtung erwächst daraus aber auch ein Auftrag an alle Verfechter von Demokratie und Freiheit.

Das könnte Sie auch interessieren:

Es braucht ein erneuertes Verständnis von Liberalität und der Zukunft einer liberalen Gesellschaft. Die Engführung auf Wirtschaftsliberalismus und Wachstumskapitalismus oder auch Versuche in der Corona-Debatte, die Freiheit des Individuums gegen eine gesamtgesellschaftliche Solidarität auszuspielen, haben den Begriff der Liberalität in Misskredit gebracht.

Das ist hoch gefährlich. Wenn ein falsches Verständnis zur Geringschätzung von Freiheit in der liberalen Demokratie selbst führt, erleichtert und beschleunigt das den Vormarsch von Autokraten und autoritären Regimen – auch mitten in Europa.

KStA abonnieren