Merz vollzieht einen Kurswechsel – aus der SPD kommt sofort Kritik. Moskau reagiert mit wütenden Worten und einem Hitler-Vergleich.
„Europäische Städte sind bedroht“Merz’ Waffen-Wende sorgt für Verwirrung – und drastische Drohungen aus Moskau

Eine amerikanische ATACMS-Rakete wird bei einer Übung abgeschossen. Laut Kanzler Merz gelten für die Ukraine keine Beschränkungen mehr für weitreichende westliche Waffen. (Archivbild)
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Fast beiläufig verkündete Bundeskanzler Friedrich Merz am Montag in einem Interview mit dem WDR, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine jegliche Reichweitenbeschränkungen für den Einsatz der von ihnen gelieferten Waffen aufgehoben hätten. „Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um die Ukraine weiter zu unterstützen“, erklärte der Bundeskanzler kurz darauf auch auf der Plattform X.
„Das bedeutet auch keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die wir liefern“, fügte Merz an. Das gelte auch für die von Großbritannien, Frankreich und den USA gelieferten Waffen, hatte Merz zuvor im WDR erklärt. Die Ukraine könne sich jetzt auch „verteidigen, indem sie militärische Stellungen in Russland angreift“, verkündete der CDU-Politiker – und sorgte nicht für eine Reaktion aus Moskau, sondern auch für Widerspruch aus der SPD.
Verwirrung nach Ankündigung: Klingbeil widerspricht Merz
Inwieweit Merz seine Äußerungen mit dem Koalitionspartner abgestimmt hat, blieb zunächst offen. Vize-Kanzler Lars Klingbeil (SPD) widersprach jedenfalls dem Eindruck, dass es einen Kurswechsel gebe. „Was die Reichweite angeht, will ich noch sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat“, sagte der Vize-Kanzler und Finanzminister auf eine Pressekonferenz in Berlin.
Am Dienstag erklärte Merz dann schließlich, er habe am Montag „etwas beschrieben, was schon seit Monaten geschieht, dass die Ukraine nämlich das Recht hat, die Waffen, die sie geliefert bekommt, auch einzusetzen, auch jenseits der eigenen Landesgrenzen einzusetzen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet.“ Das sei notwendig, fügte der Kanzler an.
Der Außenpolitiker Ralf Stegner äußerte unterdessen sofort Kritik. Der Schritt sei „nicht hilfreich“, befand der Sozialdemokrat. Alles, was den Krieg ausweite, sei falsch, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Ich finde es vielmehr richtig, die diplomatischen Bemühungen zu verstärken.“
Friedrich Merz vollzieht Kurswechsel gegenüber Olaf Scholz
Stegner hat sich wie der ehemalige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich bereits in der Vergangenheit stets gegen harte Maßnahmen gegen Moskau ausgesprochen und sich auch an einer sogenannten „Friedensdemonstration“ von Sahra Wagenknecht beteiligt, die mit ihrer Partei für einen russlandfreundlichen Kurs steht. Zuletzt hatte Stegner mit einem Geheimtreffen mit russischen Politikern für Wirbel gesorgt.
Die Äußerung des Kanzlers bedeutet nun jedoch einen Kurswechsel gegenüber seinem Vorgänger Olaf Scholz (SPD). Der hatte zwar im vergangenen Jahr den Einsatz deutscher Waffen wie den Mehrfachraketenwerfer Mars II gegen Stellungen auf russischem Territorium für die Region um die umkämpfte Großstadt Charkiw erlaubt. Er hatte sich in der Folge aber anders als wichtige Bündnispartner wie Großbritannien und Frankreich gegen eine darüber hinausgehenden Aufhebung der Einsatzbeschränkungen ausgesprochen.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU, r) und Lars Klingbeil (SPD), Bundesminister der Finanzen, sitzen während der Regierungsbefragung im Plenum des Bundestags.(Archivbild)
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Merz setzt sich nun erstmals an einer Stelle dezidiert von der Ukraine-Politik seines Vorgängers ab. Auslöser dafür waren offensichtlich die erfolglosen Bemühungen um eine Waffenruhe und die massiven russischen Luftangriffe auf die Ukraine am Wochenende. Moskau hatte das Nachbarland in den letzten Tagen gleich mehrfach mit neuen Rekord-Angriffen überzogen – und will die Attacken laut dem ukrainischen Geheimdienst in Zukunft weiter intensivieren.
„Den Vorwurf kann uns nun niemand ernsthaft mehr machen“
„Den Vorwurf, nicht alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft zu haben, die es gibt, den kann uns nun niemand ernsthaft mehr machen“, sagte Merz zu Verweigerungshaltung in Moskau. Kremlchef Wladimir Putin hatte in der Vorwoche erneut eine Feuerpause abgelehnt – stattdessen kündigte der russische Präsident eine neue Bodenoffensive im ukrainischen Grenzgebiet an. Am Montag verkündete Moskau die Einnahme einiger Siedlungen in der ukrainischen Region Sumy.
Der Kreml reagierte schnell auf die Worte des Bundeskanzlers. Dies seien „ziemlich gefährliche Entscheidungen, wenn es sie gegeben hat“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, Andrej Kartapolow, drohte Europa unterdessen mit einer drastischen Reaktion auf die Aufhebung der Beschränkungen für den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen. „Alle europäischen Städte sind bedroht“, erklärte Kartapolow.
Kreml spricht von „ziemlich gefährlicher Entscheidung“
Gleichzeitig warnte Moskau erneut vor einer möglichen Lieferung deutscher Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine. Bisher hat Merz diesen Schritt nicht angekündigt, Kyjiw drängt jedoch bereits seit einiger Zeit auf die Lieferung der durchschlagskräftigen und reichweitenstarken deutschen Waffe. Merz hatte im Wahlkampf erklärt, Taurus eventuell liefern zu wollen, sollte Russland die Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine nicht einstellen.
„Merz weiß offenbar nicht, dass beispielsweise die Iskander viel schneller von Kaliningrad nach Berlin fliegen wird“, erklärte das nun der Duma-Abgeordnete Leonid Ivlev mit Blick auf eine mögliche Taurus-Lieferung und verwies auf die russischen Marschflugkörper, die sich auch in der russischen Provinz zwischen Polen und Litauen – und damit recht nah an Zentraleuropa – befinden.
Sergej Lawrow vergleicht Kanzler Merz mit Adolf Hitler
Russlands Außenminister Sergej Lawrow attackiert Merz am Montag ebenfalls – und bediente sich dabei erneut eines Nazi-Vergleichs. Lawrow äußerte sich zwar nicht zur Reichweiten-Entscheidung des Kanzlers, kommentierte aber vorherige Aussagen von Merz, dass Deutschland die „stärkste konventionelle Armee Europas“ anstrebe.

Sergej Lawrow vergleicht Friedrich Merz mit Adolf Hitler. (Archivbild)
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„Erinnert Sie das an etwas? Hitler hatte einst die stärkste konventionelle Armee Europas“, erklärte Lawrow nun. Wenn Merz behaupte, Europa müsse sich vor einem möglichen russischen Angriff schützen, deute das „laut Freud“ daraufhin, dass Merz selbst Angriffspläne verfolge und „Ländereien an sich reißen“ wolle, führte Lawrow aus. „Die Nazi-Instinkte haben sich als hartnäckig erwiesen“, fügte der dienstälteste russische Minister an, der zuletzt oftmals mit verbalen Entgleisungen in Erscheinung getreten ist.
Moskaus Staatspresse träumt von weiteren Eroberungen
Auch die russische Staatspresse widmete sich am Dienstag dem deutschen Bundeskanzler. Merz habe mit seinen Worten Russland in seinen Plänen bestärkt, nicht nur die bereits teilweise besetzten ukrainischen Gebiete zu erobern, sondern nach mehr zu greifen, schrieb ein Kolumnist der Staatsagentur RIA Novosti in einer Kolumne. Wenn der Westen und die Ukraine nicht endlich klein beigeben würde, werde Russland seine Pläne umsetzen, hieß es weiter.
„Danke schön, Friedrich, setzen, sechs!“, schrieb Autor Kirill Strelnikov süffisant in seiner Kolumne in Richtung des Bundeskanzlers. „Falls es noch Fragen, Zweifel oder Missverständnisse hinsichtlich der Haltung der russischen Führung zur Schaffung sogenannter Pufferzonen entlang der russischen Grenze gab, sind diese nun ausgeräumt.“
Medwedew droht mit Ausdehnung von „Pufferzone“ auf gesamte Ukraine
Zuvor hatte bereits Ex-Präsident Dmitri Medwedew damit gedroht, die von Russland geplante „Pufferzone“ nahezu auf die gesamte Ukraine auszudehnen. Seit Kriegsbeginn reagiert Moskau stets mit drastischen Drohungen auf jegliche Entscheidungen im Westen, die der Unterstützung der Ukraine dienen.
Bereits mehrfach drohten russische Politiker mit radikalen Vergeltungsmaßnahmen. Taten folgten nach maßgeblichen Entscheidungen wie der Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern oder der Versorgung der Ukraine mit westlichen Raketen jedoch nicht. (mit dpa)