Missbrauch im Bistum MünsterNeues Gutachten geht von Tausenden Opfern aus

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Münster – Es ist nicht die erste Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, und es wird nicht die letzte sein. Aber die historisch-sozialwissenschaftliche Arbeit zu sexualisierter Gewalt von Priestern und zu ihrer Vertuschung im Bistum Münster zwischen 1945 und 2020 setzt Maßstäbe. Denn die Wissenschaftler der Universität Münster richten ihren Blick vor allem auf das Selbstverständnis der Kirche und ihr Leitungsgefüge, um das „spezifisch katholische Gepräge des Verbrechens“ aufzudecken und verständlich zu machen.

Der Historiker Thomas Großbölting, inzwischen an die Universität Hamburg gewechselt, spricht von einer „Täterideologie“, gegen die bis heute in der Kirche viel zu wenig unternommen worden sei. Dazu gehören die geistliche Stilisierung der Kirche zu einer heiligen Institution und des Priesters zu einem „heiligen Mann“, der in Stellvertretung für Jesus Christus persönlich agiere. Mit dieser „transzendent aufgeladenen Pastoralmacht“ hätten die Täter eine kindliche Liebe der Opfer zu Gott auf sich selbst beziehen und sich nutzbar machen können. Diese „Perversion“ treffe in den „Kern des Katholischen“.

Indem die Kirche den Tätern theologisch und strukturell die „Ermöglichungsbedingungen“ geliefert habe, „wurde sie zur Täterorganisation“, sagt Großbölting bei der Präsentation der Studie in Münster. Das Leitungsversagen aller Bischöfe und Personalverantwortlichen in den vergangenen Jahrzehnten liegt aus Sicht Großböltings und seiner Kollegen vor allem darin, dass sie Fürsorge und Verantwortung immer nur von den Tätern und von der Institution her gedacht hätten, aber nie von den Opfern.

Schutz der Kirche als Selbstzweck

Der Schutz der Kirche sei als Selbstzweck verstanden worden. Die „heilstiftende Institution“ vor Schaden zu bewahren, galt als Dienst an den Menschen. Für die Täter hatte das eine, wie Großbölting sagt, fatale Signalwirkung: „Im Zweifelsfall hauen wir dich raus.“ Auch damit habe sich die Kirche als Täterorganisation erwiesen. Wie es bei der „moraltheologisch geschulten“ hohen Geistlichkeit dazu habe kommen können, das sei eine zentrale Frage, die in der kirchlichen Aufarbeitung im Mittelpunkt stehen müsste, aber immer noch viel zu sehr vernachlässigt werde.

Die „Monströsität der Zusammenhänge“ mache ihn fassungslos, sagt Großbölting. „Der sexuelle Missbrauch ist nicht nur ein weiteres Glied in einer Kette kirchlicher Verbrechen, sondern eine Anfrage an das Selbstverständnis der Kirche.“

Sexuelle Selbstbestimmung unterdrückt

Im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ nennt Großbölting als weiteren Faktor eine repressive kirchliche Moral, die den gesamten Bereich der Sexualität einerseits in eine Zone der Scham und des Schweigens gerückt und die Opfer sexuellen Missbrauchs damit vielfach stumm gemacht habe. Das Ideal einer sexuell selbst bestimmten Persönlichkeit sei von der kirchlichen Sexualmoral systematisch kleingehalten und im schlechtesten Fall unterdrückt oder verhindert worden.

Andererseits habe die eklatante Kluft zwischen kirchlichen Norm und gelebter Praxis ein hohes Maß an Doppelbödigkeit und Bigotterie hervorgebracht – ein Klima, das die Täter weiter begünstigte.

Das Verschweigen und Verdrängen von Missbrauch sei nämlich nicht auf die Bistumsleitung beschränkt gewesen. Vielmehr habe ein „Klerikalismus der Laien“ den – in den Pfarrgemeinden oftmals bekannten oder zumindest ruchbaren – Missbrauch tabuisiert und die Täter gedeckt. „Vertuschung beginnt nicht erst im Generalvikariat“, sagt Großböltings Kollege Klaus Große Kracht.

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Will sich seiner Verantwortung stellen: Felix Genn, Bischof von Münster

Das fünfköpfige Forschungsteam übergibt seine Studie am Ende einer Pressekonferenz zunächst Vertretern der rund 600 Betroffenen im Bistum, dann an Bischof Felix Genn. Dieser will sich erst nach der Lektüre zu den Schlussfolgerungen äußern, bekundet aber in einer ersten Reaktion seinen Dank und seinen Respekt vor den Betroffenen, die mit ihren Geschichten dazu beigetragen hätten, mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Auf eine von kirchlichen Institutionen unabhängige Aufarbeitung hätten alle Anspruch, insbesondere aber die Betroffenen.

Mit einer Entschuldigung vonseiten der Kirche müsse „eine wirkliche Umkehr“ verbunden sein, so Genn. Er selbst wolle sich seiner Verantwortung stellen – persönlich für eigene Fehler, aber als „Teil des kirchlichen Systems“ auch institutionell.

Fast 200 Täter im Bistum Münster und wahrscheinlich Tausende Opfer

Was die Wissenschaftler durch Aktenstudium und umfangreiche Befragungen von mehr als 60 Opfern wie auch von leitenden Kirchenfunktionären herausgefunden haben, liegt quantitativ auf der schrecklichen Linie der Ergebnisse in anderen Bistümern. Etwa jeder 20. Geistliche ist demnach mindestens einmal Missbrauchstäter geworden. Insgesamt beläuft sich ihre Zahl im Bistum auf 196. Hierin sind auch zwölf Ordensbrüder und ein Diakon eingeschlossen. In 40 Prozent aller Fälle gab es mehr als ein Opfer. Von „Serientätern“ mit mehr als zehn Betroffenen spricht die Studie in fünf Prozent der Fälle.

Die Zahl der 600 bekannten Opfer und mindestens 5700 Einzeltaten „im Hellfeld“ geben nach Ansicht der Forscher bei Weitem nicht die tatsächlichen Dimensionen wieder. Zu rechnen sei mit einem acht- bis zehnmal größeren Dunkelfeld, also 5000 bis 6000 Mädchen und Jungen, die von Priestern sexualisierte Gewalt erfuhren.

Allein die aktenkundigen Taten aber bedeuten, wie die Historiker vorrechnen, dass sich zeitweilig zweimal pro Woche irgendwo in den Weiten des Bistums ein Priester an einem Kind oder Jugendlichen verging. Die Behauptung von „Einzelfällen“, auf die sich der frühere Bischof Reinhard Lettmann (Amtszeit 1980 bis 2008) noch 2002 zurückzog, sehen die Forscher eindeutig widerlegt.

Von 100 Beschuldigten wusste das Bistum nachweislich schon vor der großen Anzeigewelle ab dem Jahr 2010. Ebenso steht für die Forscher außer Zweifel, dass die jeweiligen Bischöfe über die Missbrauchsfälle informiert waren, auch wenn die Aktenführung offenkundig absichtlich lückenhaft war. Sie hätten „eine ausgeprägte Präferenz für mündliche Absprachen“ gefunden, formulieren die Wissenschaftler spitz.

Untaten hätten verhindert werden können

Klar ist damit auch, dass die Bistumsleitungen zumindest bei den Wiederholungstätern durch konsequentes Vorgehen weitere Opfer hätten verhindern können. Auf Zahlen wollen sich die Autoren der Missbrauchsstudie allerdings nicht festlegen. Für die Einordnung der Versäumnisse und Verletzungen kirchenrechtlicher Bestimmungen folgen sie ausdrücklich den „Pflichtenkreisen“ aus dem Kölner Missbrauchsgutachten des Strafrechtlers Björn Gercke.

Was seitens des Bistums faktisch mit den Beschuldigten passierte, war jedenfalls das Gegenteil eines Einschreitens. Sie wurden in vielen Fällen (38 Prozent) gar nicht oder nur milde sanktioniert. Das Instrument der Wahl: Versetzung in eine andere Pfarrei, um die Täter so „aus der Schusslinie zu nehmen“. Immer wieder schloss das auch die Vereitelung staatlicher Strafverfolgung ein inklusive einer von der Kirche gedeckten Flucht ins Ausland.

Täter floh nach Südamerika

In einem besonders spektakulären Fall entzog sich ein beschuldigter Priester mit Wissen des späteren Kölner Kardinals Joseph Höffner (Bischof von Münster von 1962 bis 1969) durch Flucht über Schweden nach Südamerika dem Zugriff der Justiz, tatkräftig unterstützt durch das weltkirchliche Netzwerk von „Caritas international“. 1962 dann ließ Höffner auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom seine Kontakte spielen und sorgte für einen Einsatz des Täters in Österreich. Erst als sich dieser gelegentlich zu einem Besuch in Deutschland aufhielt, schlugen die staatlichen Ermittler zu.

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Weitgehend ausgespart bleibt das Wirken des „Löwen von Münster“, Kardinal Clemens August von Galen (Bischof von 1933 bis 1946). Wie die Historiker ausführen, ist das zum einen der dürftigen Aktenlage geschuldet. Das Bistumsarchiv mit Aufzeichnungen aus der Vorkriegszeit verbrannte nach einem alliierten Bombenangriff auf Münster.

In einem Fall aus der kurzen Zeit zwischen Kriegsende und von Galens Tod sind die Forscher auf einen Kaplan gestoßen, der in den 1940er Jahren als Missbrauchstäter aufgefallen war, dann aber wieder eingesetzt wurde.

Als „zynisches, verhängnisvolles“ Muster schildert Großbölting generell einen Umgang mit Klerikern, die unter den Nationalsozialisten wegen Missbrauchs verurteilt worden waren. Sie seien später durch eine kirchliche Hagiografie als Märtyrer stilisiert, ihre Haftstrafen als Ausdruck des Widerstands gegen das NS-Regime umgedeutet worden. Erst spätere erneute Übergriffigkeiten hätten dann „die wahren Zusammenhänge“ hervortreten lassen. 

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