Nach der PandemieDas Feiern nicht vermiesen lassen

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Margrethe Vestager, ihres Zeichens Europas Kommissions-Exekutiv-Vizepräsidentin, ist besorgt: Wir könnten uns zu sehr freuen, wenn die Pandemie vorbei ist. Dann kämen erst recht die psychischen Probleme hoch, die sich in den Monaten des Lockdowns aufgestaut hätten. Auch die Kanzlerin warnte, nach der Pandemie sei vor der Pandemie.
Frau Vestager ist Wirtschaftswissenschaftlerin, Frau Merkel Physikerin. Beide haben daher eigentlich keine besondere Kompetenz für seelisches Befinden. Man muss allerdings befürchten, dass auch die Psycho-Industrie bald das „Burndown“ oder etwas Ähnliches erfinden wird, das natürlich unbedingt stationär behandelt gehört – am besten in einer Super-Spezialklinik in den Bergen, in der es garantiert keinerlei wirklich psychisch Kranken gibt, die die Rehabilitation stören könnten.

Manfred Lütz
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Was verbindet eigentlich die beiden Politikerinnen außer dieser Art freihändiger prophylaktischer Freudlosigkeit? Die mentalitätsgeschichtlich Gebildeten ahnen vielleicht, was jetzt kommt: Beide, Vestager und Merkel, entstammen einem protestantischen Pfarrhaus.
Heikles Thema
Ab diesem Moment wird diese Kolumne heikel, sehr heikel. Ich selbst bin nämlich katholisch, und jetzt kann alles nur noch schiefgehen. Darf ich als Katholik das uralte Klischee der protestantischen Askese auffahren und dagegen die katholische Lebensfreude stellen? Darf ich den aus der katholischen Kirche ausgetretenen Kabarettisten Jürgen Becker mit seinem Schlager „Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin“ zitieren? Und hilft es, wenn ich den nach eigenem Bekunden „religiös unmusikalischen“ Max Weber mit seinem Standardwerk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ für die Auffassung in Anspruch nehme, dass protestantisch-freudlose Pflichterfüllung zwar den erfolgreichen Kapitalismus hervorgebracht hat, der durch zweckmäßiges Beichten entlastete Katholizismus aber dafür mehr Spaß am diesseitigen Leben verhieß?
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Sei’s drum. Ich bin katholisch und deswegen mehr fürs Feiern als fürs Arbeiten zuständig. Und das Feiern nach Corona – alles in gesitteter Form – sollten wir uns von niemandem vermiesen lassen. Vielleicht gibt es ja bald wieder „tolle Zwanzigerjahre“ wie schon einmal vor einem Jahrhundert. Beim Feiern ereignet sich eigentlich der Sinn des Lebens. Von der Muße sprachen die Alten, völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll verbrachter Zeit, in der man schöngeistige Gespräche führt, Musik hört, Freunde besucht, Romane liest, feiert und vor allem eines nicht tut: Arbeiten. „Wir arbeiten, um dann die Muße zu genießen“ sagt Aristoteles. Menschen können erstaunlich gut Katastrophen bewältigen. Das hat die Menschheit auch jetzt bewiesen.
Post-Covid ist nicht zu unterschätzen
Natürlich haben Menschen in der Corona-Zeit Blessuren davontragen, körperliche und seelische. Das Post-Covid-Syndrom ist nicht zu unterschätzen. Auch psychische Langzeitfolgen wird es geben. Für die Betroffenen muss gesorgt werden. Aber sie haben nichts davon, wenn auch alle um sie herum sich benehmen wie auf einer endlosen Trauerfeier. Auch den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben die Menschen die Gegenwart genossen und nach vorne geschaut. Protestanten, Katholiken und weltanschaulich Diverse gleichermaßen. Davon können wir jetzt alle lernen.
Zur Person Manfred Lütz

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Manfred Lütz, geb. 1954, ist Psychiater, Psychotherapeut und katholischer Theologe. Der frühere Chefarzt des Kölner Alexianer-Krankenhauses ist auch Mitglied im Päpstlichen Laienrat.