Ein Schulterklopfen und der Satz: Mit Frauen ist es halt nicht so einfach. Viele von Gewalt betroffene Männer werden belächelt. Dabei steigt die Zahl der Anrufer beim Hilfetelefon.
Häusliche GewaltSeit 30 Jahren von der Frau geschlagen – „Er dachte, das sei normal“

Mehr als jede vierte Person, die von häuslicher Gewalt betroffen ist, ist männlich. Das Hilfsangebot ist gering.
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Mitten in der Nacht flüchtet ein Mann panisch vor seiner Frau – sie hat ihn gerade mit einem Messer bedroht. Der Mann sucht Schutz in seinem Auto und weiß: Jetzt geht es nicht mehr allein. Er braucht endlich Hilfe. Er meldet sich beim „Hilfetelefon Gewalt an Männern“ und erreicht Björn Süfke. Es ist eins mehrerer Beispiele, von denen Süfke erzählt. Er berät seit 26 Jahren hauptberuflich Männer. Mit dieser Spezialisierung stand der Psychologe und Geschäftsführer der Männerberatungsstelle „man-o-mann“ in Bielefeld eine lange Zeit nahezu allein da.
Es ist ungefähr sieben Jahre her, erinnert sich Süfke, da hatte er das Familienministerium NRW in der Leitung. Man meldete sich bei der „man-o-mann“-Männerberatung mit der Frage: Welche weiteren Angebote es für Männer mit Gewalterfahrungen in NRW neben seiner Beratungsstelle gebe. Süfkes Antwort: „Ja, nix, gar nichts.“ Zu wenig, befand das Ministerium und führte wenig später - gemeinsam mit Süfke und mit Kollegen in Bayern - das erste Hilfetelefon für Männer in Deutschland ein, kostenlos und anonym. Fertig eingerichtet war es ab 2020. Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern schlossen sich später an.
Der Großteil der Opfer von häuslicher Gewalt in Deutschland ist weiblich, doch mehr als jeder vierte Betroffene ist ein Mann. Und der Anteil der Männer wächst. Allein im ersten Corona-Jahr 2020 war die Anzahl weiblicher Opfer von Partnerschaftsgewalt um 3,7 Prozent angestiegen, die der männlichen Opfer um 7,4 Prozent. Mittlerweile sind insgesamt 29,5 Prozent der Opfer Männer. Das ermittelt das „Bundeslagebild Häusliche Gewalt 2023“ des Bundeskriminalamts (BKA). Experten vermuten, dass der Anstieg sichtbarer Fälle zum Teil auch am Ausbau von Beratungsangeboten liegen könnte. Allein die Existenz eines Hilfetelefons, das sich explizit an Männer richtet, könnte sie ermutigen, sich zum ersten Mal zu offenbaren. Denn Männer, die von Gewalt betroffen sind, kämpfen oft nicht nur gegen psychische Einschüchterungen oder Bedrohungen, sondern auch gegen die Scham. Sich einzugestehen, dass man das Opfer ist, fällt Männern oft schwerer als Frauen, sagt Süfke. In vielen Köpfen könne der Mann nur Täter sein, nicht Opfer.
Die Zahl der Anrufer hat sich mehr als verdoppelt
Diese Angst, lächerlich zu wirken, spiele auch beim Männertelefon immer wieder eine Rolle, sagt Süfke. „Wenn Männer sich ihren Freunden anvertrauen und sagen, dass sie Angst vor ihrer Frau haben“, sagt Süfke, „dann klopfen ihnen die meisten auf die Schulter und antworten, es wäre halt nicht immer einfach mit den Frauen.“ Wenn die Männer beim Hilfetelefon hingegen merken, dass ihnen jemand zuhört und glaubt, dann mache das Mut.
Das Hilfetelefon für Männer ist ein Modellprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird. Der Verein „ESTAruppin“ wertet aus, wer das Angebot nutzt. Im ersten Jahr zählte das Hilfetelefon rund 1500 Anrufe, im zweiten Jahr schon doppelt so viele. Vergangenes Jahr waren es mehr als 4000 Anrufe. Am häufigsten riefen gewaltbetroffene Männer selbst an, aber auch Fachkräfte aus anderen Einrichtungen holten sich Rat beim Hilfetelefon für Männer. Ungefähr jeder zehnte Anrufer suchte Hilfe für einen Mann im eigenen Umfeld. Die Gespräche dauerten meistens zwischen sechs und 30 Minuten. Die Hauptthemen: Psychische oder körperliche Gewalt.
Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt ist hoch - sowohl bei Frauen als auch bei Männern
Süfke blieb ein besonderer Fall im Gedächtnis. Er telefonierte mit einem Mann, der seit 30 Jahren von seiner Frau geschlagen wurde. „Er dachte, das sei normal und hat sonst mit niemandem darüber gesprochen.“ Das Problem „Gewalt gegen Männer“ habe es schon immer gegeben, sagt Süfke. Es sei nur wenig darüber gesprochen worden. Zwar gibt es noch immer kaum verlässliche Zahlen. Doch das Hilfetelefon zeige, wie hoch der Bedarf nach mehr Unterstützung sei. „Jede Woche rufen ungefähr 100 Leute an“, sagt Süfke. Auch der Zwischenbericht der „ESTAruppin“ bekräftigt den umfangreichen Bedarf am Männerhilfetelefon.
In ganz NRW gibt es 20 Plätze für Männer in anonymen Schutzwohnungen
Wie geht es weiter, wenn Männer beim Hilfetelefon anrufen? Manchmal reiche schon ein einziges Gespräch, sagt Süfke. Manchmal braucht es mehrere. Wenn es Bedarf über die Telefonberatung hinaus gibt, versuchen er und seine Kollegen, die Männer an eine passende Beratungsstelle vor Ort zu vermitteln. Geht es aber tatsächlich um einen Härtefall, wie bei dem Mann, der von seiner Partnerin mit einem Messer bedroht wurde, dann sollten die Betroffenen möglichst schnell Zuflucht finden, entweder bei Freunden, bei der Familie oder in einer sogenannten Schutzwohnung.
Für Männer gibt es in Deutschland insgesamt 48 solcher Plätze, 20 davon werden in NRW angeboten. Die Wohnungen sind kostenlos und vollständig anonym, damit sich die Männer den gewaltbereiten Menschen aus ihrem früheren Umfeld vollständig entziehen können.
Angebot deckt Nachfrage nicht
Michael Zeihen leitet die „Fachstelle für Jungen und Männer“ des Vereins „SKM Köln“. Gemeinsam mit seinen Kollegen betreut und vermittelt er Männer, die einen Platz in einer Schutzwohnung benötigen. Doch das Angebot kann die Nachfrage bei weitem nicht decken. Es gibt in Köln nur eine Schutzwohnung mit vier Plätzen. Zeihen muss regelmäßig Männern absagen. „Die Wohnungen in Köln und Düsseldorf sind immer voll – ich hatte allein Freitag vier Anrufe“, sagt er. Auch hier gilt wieder: Handelt es sich um einen Härtefall, sucht Zeihen nach einer Notlösung. Das Angebot für Männerberatung ist klein, viele Kollegen kennen sich über die Stadtgrenzen hinweg. Manchmal fragt Zeihen in anderen Städten, ob noch Plätze in einer Wohnung frei sind.
Wer Glück hat und in eine Schutzwohnung einziehen kann, verfügt über beste Chancen, dem Gewaltkreislauf des alten Lebens zu entkommen. In den meisten Wohnungen, so auch in Köln, leben die Männer in einer Wohngemeinschaft zusammen. Sie kümmern sich selbst um den Haushalt, müssen ein regelmäßiges Beratungsangebot wahrnehmen und in der Regel, so erzählt es Zeihen, kommen die Männer auch schnell untereinander ins Gespräch. So sollen sie möglichst schnell eine hilfreiche Struktur entwickeln und sich gegenseitig Rückhalt bieten.
Ein ehemaliger Bewohner der Schutzwohnung schreibt, dass er dort zum ersten Mal wieder „innerlich zur Ruhe kommen“, sich „neu ordnen und erste Schritte“ für einen neuen Lebensabschnitt planen konnte, fernab von der Gewalt zu Hause. Über seine Mitbewohner und die Situation, plötzlich als Erwachsener wieder in einer Wohngemeinschaft zu leben, schreibt er: „Man sitzt irgendwie im selben Boot – da entstehen auch kleine Freundschaften.“ Heute lebt er in einer anderen Stadt und führt ein neues Leben. Doch mit seinem Männerberater aus Köln hat er noch regelmäßig Kontakt.
Ein anderer ehemaliger Bewohner schreibt, dass er seiner gewaltbereiten Partnerin entfloh, wochenlang im Auto schlief, immer wieder in unterschiedlichen Notunterkünften nächtigte und dann den Platz in der Kölner Schutzwohnung ergattern konnte. Auch für ihn begann damit ein neuer Lebensabschnitt. Und auch ihm half es, sich mit „anderen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben“. Üblicherweise wohnen die Männer zunächst drei Monate in den Wohnungen, oft werde der Aufenthalt dann noch einmal um drei Monate verlängert, sagt Zeihen.
Das Land NRW finanziert die Schutzwohnungen in diesem Jahr mit rund einer Million Euro, das Hilfetelefon Gewalt an Männern mit rund 200.000 Euro. Zum Vergleich: Für den Schutz von Frauen stehen im NRW-Haushalt derzeit mehr als 28 Millionen Euro zur Verfügung. Dazu zählen Förderprogramme für Frauenhäuser, allgemeine Fachberatungsstellen und Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt.
Für das Männerhilfetelefon ist die Finanzierung vorerst nur bis Ende des Jahres und für die Schutzwohnungen in Köln und Düsseldorf bis Ende 2026 gesichert. Das Familienministerium NRW schreibt aber auf Anfrage, man sei bestrebt, die Angebote zu „verlängern“ und zu „verfestigen“. NRW-Gesundheitsministerin Josefine Paul bekräftigt zudem: „Dass immer mehr Betroffene, aber auch Angehörige und Personen aus dem sozialen Umfeld, das Angebot des Männerhilfetelefons wahrnehmen, zeigt, dass es mittlerweile ein unentbehrlicher Teil der Hilfeinfrastruktur geworden ist.“
Nimmt man alle Bundesländer zusammen, arbeiten ungefähr 15 professionelle Psychotherapeuten, Pädagogen und weitere Berater beim Hilfetelefon Gewalt an Männern - jedoch nicht in Vollzeit. Alle Arbeitsstunden zusammengerechnet komme man lediglich auf rund vier Vollzeitstellen, sagt Süfke. Deshalb sei ab und an die Leitung besetzt. Eine Beratung in einer Fremdsprache sei in der Regel nicht erhältlich. Süfke wünscht sich, dass sich solche Versorgungslücken bald schließen lassen.
Eine gute Argumentationsgrundlage könnten genauere Zahlen liefern. Immerhin arbeitet das BKA derzeit an einer Dunkelfeldstudie mit dem Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“. Eine bundesweite Befragung soll genauer aufzeigen, welche Gewalterfahrungen Männer und Frauen machen. Die Ergebnisse sollen im Herbst dieses Jahres veröffentlicht werden und erstmals weit über die bisher bekannten Daten hinausgehen.