In NRW ist jeder fünfte arm„Laumann ist das soziale Feigenblatt der CDU"

Lesezeit 6 Minuten
Lena Teschlade  und Lisa Kapteinat auf der Terrasse des Landtags

Lena Teschlade (l.) und Lisa Kapteinat

Zwei junge SPD-Frauen wollen das sozialpolitische Profil ihrer Partei schärfen.  Ein Interview mit Lisa Kapteinat, Vize-Fraktionschefin im Landtag, und  Arbeitsmarkt-Expertin Lena Teschlade.  

Frau Kapteinat, Frau Teschlade, in NRW ist jeder Fünfte arm. Warum ist NRW besonders betroffen?

Lisa Kapteinat: Das ist auch eine Folge des Strukturwandels im Ruhrgebiet, der nicht gut geglückt ist und viele Menschen aus dem Erwerbsleben gedrängt hat. Auch die Verteilung von Vermögen ist in NRW ein großes Problem. Die reichsten zehn Prozent verfügen über mehr als 50 Prozent des Gesamtvermögens.

Ein Punkt sind zudem die schlechten Bildungschancen von klein an. NRW ist da bundesweit Schlusslicht bei den Bildungsausgaben. Wir geben nur 6300 Euro pro Grundschüler aus und liegen damit über 1000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt. Und es gibt immer noch zu wenig Kita-Plätze. Dadurch ist der Weg ins soziale Abseits bei vielen Kindern programmiert.

Mitte Dezember fand in Essen die Armutskonferenz von Schwarz-Grün statt. Wie beurteilen Sie das Format?

Lena Teschlade: Es ist natürlich nie verkehrt, wenn sich die Akteure treffen, die mit Armut zu tun haben, um über Lösungen zu sprechen. Dabei aber die Betroffenen nicht zu Wort kommen zu lassen, ist der falsche Weg.

Wir haben auch nicht wirklich ein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem. Schwarz-Grün hat aber gar kein echtes Interesse, etwas an den Strukturen zu ändern. Das war mal wieder eine Konferenz nach dem Motto „Schön, dass wir drüber gesprochen haben.“ Zudem sind besonders oft Frauen von Armut betroffen, aber auf dem Podium saß nur eine Frau.

Mit der Regierungsbeteiligung der Grünen waren viele Hoffnungen bei den sozialen Trägern verknüpft. Ist die Enttäuschung eine Chance für die SPD?

Teschlade: Ich glaube nicht, dass die Träger große Hoffnungen in die neue Koalition gesetzt haben. Mir ist das jedenfalls nicht bekannt. Ich arbeite aber auch dafür, dass die Menschen der SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit die höhere Problemlösungskompetenz zutrauen.

NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) steht in dem Ruf, das „soziale Gewissen der CDU“ zu sein. Schadet sein gutes Image der SPD?

Kapteinat: Es schadet den Bürgerinnen und Bürgern, die dringend Unterstützung brauchen, aber von der CDU keine bekommen. Den salbungsvollen Worten von Herrn Laumann folgt nichts, wenn es zum Schwur kommt. Seine Partei nutzt ihn nur als Feigenblatt. Sie hat schließlich auch den Mindestlohn, das Bürgergeld und Wohngeld Plus blockiert. So etwas führt zu Frust und Politikverdrossenheit.

Teschlade: Die CDU gefällt sich in der Rolle der Partei, die Almosen verteilt. An einer strukturellen Armutsbekämpfung hat sie kein ehrliches Interesse. Wenn Laumann es mit seinen Reden ernst meinen würde, sollte er der SPD beitreten. Das tut er aber nicht, weil er es selbst nicht ernst meint. Er könnte im Bund ja viele Initiativen anregen, wie zum Beispiel die Anhebung des Mindestlohns, aber das macht er nicht.

Die SPD hat im Landtagswahlkampf auf soziale Themen wie die Wohnungspolitik gesetzt, konnte damit aber nicht punkten. Waran lag das?

Kapteinat: Na ja, wir haben eine fulminante Aufholjagd hingelegt. Aber am Ende haben bundespolitische Themen – wie das angebliche Russland-Problem der SPD – die Auseinandersetzung überlagert. Das hat uns leider geschadet. Die Wohnungsnot zu einem Schwerpunkt zu machen, ist und bleibt aber trotzdem richtig.

Teschlade: Man muss deutlich festhalten, dass die CDU die Wahl auch nicht mit sozialen Themen gewonnen hat, sondern mit der Stärkung der Rechte von Vermietern und Besserverdienern. Da haben wir es als SPD mit unseren Themen oftmals deutlich schwerer, weil unsere klassische Wahlklientel oft nicht mehr zur Wahl geht.

Wir brauchen endlich eine stärkere Tarifbindung – und auch einen höheren Mindestlohn, der wirklich armutsfest ist.
Lena Teschlade, SPD-Arbeitsmarkt-Expertin

Viele Geringverdiener ärgern sich darüber, dass der Lohnabstand zu den Empfängern von Bürgergeld angeblich zu gering ist. Wie ernst nehmen Sie die Kritik?

Teschlade: Die Behauptung, dass sich arbeiten nicht mehr lohnt, ist ein Mythos, der mit viel Mühe aufrechterhalten wird. Um davon abzulenken, worum es wirklich geht: Wir brauchen endlich eine stärkere Tarifbindung – und auch einen höheren Mindestlohn, der wirklich armutsfest ist.

Kapteinat: Das eigentliche Problem ist doch nicht der Lohnabstand zwischen Bürgergeldempfängern und Geringverdienern, sondern die Tatsache, dass ein Manager das Hundertfache einer Kassiererin bekommt. Es gelingt den Konservativen immer wieder, eine Neiddebatte am unteren Ende der finanziellen Skala anzuzetteln. Dabei ist die Schere nach oben das Problem.

Wie beurteilen Sie Reality-Formate bei RTL über Armut wie „Armes Deutschland“?

Teschlade: Das ist das Format, über das sich die CDU offenbar weiterbildet, weil sie meist doch gar nicht über eigene Kontakte verfügt. Das mangelnde Interesse von Schwarz-Grün an den Menschen zeigt sich auch daran, dass beispielsweise in Köln ein grüner Sozialdezernent keine Schwierigkeiten damit hat, im tiefsten Winter ein Lager von Obdachlosen zu räumen und die Habseligkeiten wegwerfen zu lassen.

Viele Zuschauer ärgern sich über die Darsteller, die vermeintlich in der sozialen Hängematte liegen. Wie soll man mit Menschen umgehen, die nicht arbeiten wollen?

Teschlade: Der weitaus überwiegende Teil der Betroffenen hält sich an die Regeln. Es sind etwa drei Prozent, die den Sozialstaat ausnutzen, weil sie nicht arbeiten wollen. Das ist natürlich nicht schön. Aber wollen Sie die Menschen dann verhungern oder erfrieren lassen?

Der Schaden durch Hartz-IV-Betrug pro Jahr liegt bei etwa 60 Millionen Euro. Der Schaden durch Steuerhinterziehung liegt bei 100 Milliarden Euro. Da ist für mich relativ klar, welcher Kampf sich da mehr lohnt.
Lena Teschlade, SPD-Arbeitsmarkt-Expertin

Im Übrigen wird der Staat von ganz anderer Seite in viel höherem Ausmaß ausgenutzt. Der Schaden durch Hartz-IV-Betrug pro Jahr liegt bei etwa 60 Millionen Euro. Der Schaden durch Steuerhinterziehung liegt bei 100 Milliarden Euro. Da ist für mich relativ klar, welcher Kampf sich da mehr lohnt.

Armut gibt es nicht erst seit 2017. Die SPD wollte „kein Kind zurücklassen“. Hat das nicht funktioniert?

Kapteinat: Das war und ist auch nach wie vor der absolut richtige Ansatz. Wir brauchen mehr Vorbeugung im Sozialsystem. Frühe Hilfen von Anfang an. Aber dafür braucht man auch einen langen Atem und einen breiten Schulterschluss, um Strukturen auch wirklich zu verändern. Präventive Maßnahmen kosten schließlich auch Geld. Und das fehlt zurzeit. Womit wir auch wieder bei den hinterzogenen Steuermilliarden wären.

NRW hat einen großen Strukturwandel hinter sich. Jetzt steht der nächste große Umbruch im Rheinischen Revier bevor. Wie groß ist das Risiko, dass die Region zum Armenhaus wird?

Teschlade: Die Gefahr müssen wir sehr ernst nehmen. Denn es fallen 11.000 Jobs weg, aber bislang sind nur rund 2000 neue geplant. Mir ist ein klares Bekenntnis zum Industriestandort wichtig. Ich möchte nicht, dass die RWE-Beschäftigten künftig alle Paketboten werden.

Es gilt, die Fehler, die im Ruhrgebiet gemacht wurden, nicht zu wiederholen. Die Anlage von neuen Seen und Naturschutzgebieten hilft den Familien im Revier bei der sozialen Absicherung nicht weiter. Wir brauchen hier viele neue und gute Arbeitsplätze.

Armut führt oft zur Vereinsamung. Wie kann man armutsbedingte Isolation durchbrechen?

Kapteinat: Es reicht nicht, die Menschen aufzufordern, den Nachbarn einen Teller mit Keksen vor die Türe zu stellen, wie es Ministerpräsident Wüst getan hat. Wir brauchen massive Investitionen in soziale Einrichtungen mit aufsuchenden Strukturen. Für uns ist klar: Niemand, der das nicht will, soll seinen Geburtstag allein verbringen müssen.

Die NRW-SPD wählt nächstes Jahr einen neuen Chef. Sollte Wahlverlierer Thomas Kutschaty weiter am Steuer bleiben?

Kapteinat: Thomas Kutschaty hat in den letzten Tagen und Wochen gezeigt, dass er für NRW eine sicherere Bank gewesen wäre als Hendrik Wüst. Dass seine Landesregierung es im Gegensatz zu anderen Bundesländern nicht hinbekommen hat, frühzeitig für ein Unterstützungspaket zu sorgen, ist beschämend. Das wäre unter einem Ministerpräsidenten Kutschaty nicht passiert.


„Wie war's in der Schule?“ Abonnieren Sie hier unseren Newsletter für Familien und Lehrende in der Kölner Region – immer mittwochs.

KStA abonnieren