Im Offenen Vollzug sitzen Straftäter ihre Haft ab, ohne hinter Gittern eingesperrt zu sein. Geht die Justiz zu lasch mit Straftätern um? Oder ist das Bild vom Kuschelvollzug nur ein Vorurteil. Ein Besuch in der JVA-Köln, wo 27 weibliche Gefangene im Offenen Vollzug untergebracht sind.
Strafvollzug ohne Gitter in NRW„Ich bin nachts gefangen, tagsüber verkaufe ich Brötchen in einer Kölner Bäckerei“

Flur im Offenen Vollzug der Frauen-JVA Köln: An der Zugangstür wird an die Regeln erinnert.
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Angelica Berger (Name geändert) kommt gerade von der Arbeit, sie wirkt fit, obwohl sie wie immer früh aufgestanden ist. Die 59-Jährige ist Verkäuferin in einer Kölner Bäckerei. Sie trägt eine gelbe Strickjacke über ihrer hellen Freizeitkluft und bietet dem Besucher freundlich lächelnd eine Tasse Kaffee an. Angelica Berger hat sich bereit erklärt, etwas darüber zu erzählen, wie ihr Alltag derzeit abläuft. Das Gespräch findet nicht bei ihr zu Hause statt, sondern in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Köln-Ossendorf. „Ich habe richtig Mist gebaut“, sagt sie, kaum dass sie am Tisch Platz genommen hat. Dann schließt sie die Augen. „Sorry, ich muss mich erstmal sammeln.“
Angelica Berger gehört zu den Gefangenen, die im Offenen Vollzug der JVA für weibliche Inhaftierte ihre Strafe absitzen. Dort gibt es keine Mauern, keine Gitter, keine Häftlingsuniformen, die Bediensteten tragen keine Waffen. Für viele Häftlinge, die dorthin verlegt werden, kommt der Umzug einem Sechser im Lotto gleich. Das rote Backsteingebäude mit dem großen Garten erinnert an ein Studentenwohnheim. Auf einem Stuhl räkelt sich eine zugelaufene Katze in der Sonne. „Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier“, sagt Angelica Berger. Insgesamt wurde sie wegen räuberischen Diebstahls zu vier Jahren Haft verurteilt. Eine vergleichsweise harte Strafe, wenn man bedenkt, dass die Frau aus dem Kölner Umland noch nicht vorbestraft war. Die Tat, bei der eine Person aus ihrem Umfeld zu Schaden kam, kommt ihr heute schäbig vor. „Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich daran denke. Und man hat hier viel Zeit zum Nachdenken.“ Im Offenen Frauen-Vollzug gibt es nur drei Dutzend Plätze. Die überwiegende Zahl der Inhaftierten geht „draußen“ einer geregelten Arbeit nach. Manche arbeiten im Supermarkt, in der Gastronomie, übernehmen bei Zeitarbeitsfirmen Reinigungsdienste, auch Arzthelferinnen und Pflegekräfte waren schon unter den Gefangenen, für die ab 22 Uhr Nachtruhe gilt. Die Gefangenen aus dem Offenen Vollzug sind für viele Arbeitgeber attraktiv. „Niemand kommt so zuverlässig wie wir zur Arbeit“, sagt Angelica Berger. „Da fällt keine aus, weil sie am Vorabend zu viel gefeiert oder getrunken hat.“

Blick in eine von einer Inhaftierten selbst eingerichtete Stube im Offenen Vollzug der Frauen-JVA Köln.
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Viele Frauen im Offenen Vollzug sitzen wegen Diebstahls und nicht beglichener Rechnungen von Internetbestellungen ein. Im Kölner Frauengefängnis gibt es insgesamt 300 Plätze. „Für den Offenen Vollzug sind nur die Wenigsten geeignet. Von den 36 Plätzen sind derzeit nur 27 belegt“, sagt Anstaltsleiterin Angela Wotzlaw.
Viele Menschen, die zu einer Haftstrafe verurteilt werden, tragen einen Sack voller Problemen mit sich herum. Ein großer Teil ist drogenabhängig, viele haben psychische Probleme, manche sind gewaltbereit oder bereiten in ihrem Umfeld Stress durch auffälliges Verhalten. Meist fehlen ihnen Eigenschaften, die für die Verlegung in den Offenen Vollzug unerlässlich sind. „Wer dort eine Chance bekommen will, muss absolut zuverlässig und vertrauenswürdig sein. Eine Fluchtgefahr muss ausgeschlossen sein“, sagt Wotzlaw.
Die Drohung, bei einem Regelverstoß in den geschlossenen Vollzug zurückgeschickt zu werden, ist ein äußerst wirkungsvolles Druckmittel. Nach der Arbeit müssen die Inhaftierten schnellstmöglich in den Offenen Vollzug zurückkehren. „Wenn da mal eine KVB ausfällt, muss ich sofort die Pforte darüber informieren, dass ich später komme“, sagt Angelica Berger. Das Handy, das sie für solche Fälle dabeihat, muss sie bei Ankunft am Eingang abgeben.
Die Zimmer der Inhaftierten werden auch im Offenen Vollzug regelmäßig durchsucht. Immer wieder versuchen Frauen, irgendwo ein zweites Handy zu verstecken. Um zu kontrollieren, ob das Verbot von Alkohol- und sonstigem Drogenkonsum eingehalten wird, müssen regelmäßig Urinproben abgegeben werden. Auch die Post wird mitgelesen, alle Bankbewegungen überwacht. „Im Offenen Vollzug verlangen wir von den Inhaftierten absolute Transparenz“, sagt Wotzlaw. „Wenn eine Gefangene meint, sie könnte uns linken, kommt sie sofort zurück in den geschlossenen Vollzug.“

Blick auf die Rückseite des Gebäudes, in dem der Offene Vollzug der JVA Köln für Frauen untergebracht ist.
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Wer das Glück hat, eine Haft außerhalb der Gefängnismauern absitzen zu können, entscheidet eine Vollzugskonferenz. An der nehmen nicht nur die Abteilungsleiterin des Frauenvollzugs und die Bereichsleiterin der offenen Einrichtung, sondern auch eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin teil. Sie beraten über die Anträge, die von den weiblichen Häftlingen zur Verlegung in den Offenen Vollzug gestellt werden. Nur wer sich im geschlossenen Vollzug gut führt und eine günstige Sozialprognose mitbringt, hat die Chance auf einen Wechsel. Pro Jahr werden zwischen 70 und 80 Gesuche an das Gremium gerichtet.
An diesem Tag wird über den Fall der Gefangenen S. beraten. Die Frau ist allen Konferenz-Teilnehmerinnen bestens bekannt, da sie bereits zum zweiten Mal in der JVA einsitzt, weil sie gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Bei einem Gespräch über ihre familiäre Situation hatte sie Angaben gemacht, die den JVA-Mitarbeiterinnen unglaubwürdig erschienen. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass sie Mitgefangene abgezockt haben soll. „Wer ist dafür, dem Antrag auf Eignung für den Offenen Vollzug zuzustimmen?“, fragt die Vize-Bereichsleiterin nach einer längeren Aussprache. Keine Hand hebt sich.
In NRW gibt es derzeit 13 Haftanstalten, in denen ein Offener Vollzug durchgeführt wird. NRW-Justizminister Benjamin Limbach ist mit dem Erfolg des Konzepts hochzufrieden. „In Köln wird geeigneten weiblichen Gefangenen die Chance gegeben, sich unter den besonderen Bedingungen auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten“, sagt der Grünen-Politiker im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Wissenschaftliche Studien würden zeigen, dass dies so am besten funktioniere.
Limbach ärgert sich darüber, dass der Offene Vollzug in öffentlichen Diskussionen oft als Beispiel dafür herangezogen wird, dass die Justiz in NRW mit verurteilten Straftätern zu lasch umgehe, während gleichzeitig den Opfern zu wenig Beachtung zukomme. „Der offene Vollzug ist kein ‚Kuschelvollzug‘“, betont Minister Limbach. „Es geht darum, Gefangene schrittweise wieder in ein verantwortliches Leben in Freiheit zu führen durch Arbeit, soziale Einbindung und durch Struktur“, so der Politiker aus Bonn. Der offene Vollzug ist kein einfacher Weg. „Denn er verlangt Vertrauen in die Menschen, die ihn gestalten, und in diejenigen, die ihn durchlaufen. Er verlangt außerdem auch Mut von der Gesellschaft, Verantwortung nicht nur einzufordern, sondern auch zu ermöglichen.“
Dass Häftlinge aus dem Offenen Vollzug verschwinden, ist zwar selten, kommt aber durchaus vor. So kam in Euskirchen im vergangenen Jahr ein 31-jähriger Häftling nicht mehr zurück, der über Weihnachten einen mehrtägigen Ausgang hatte. Mit einem Anteil von 32 Prozent liegt der offene Vollzug in NRW weit über den einstelligen Prozent-Raten anderer Bundesländer.

NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne), aufgenommen bei einer Pressekonferenz.
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Angelica Berger ist froh, den Job in der Bäckerei bekommen zu haben. „Tagsüber verkaufe ich Brötchen, nachts bin ich Gefangene - das weiß von den Kunden aber niemand“, sagt die Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Sie versichert, über Flucht nie nachgedacht zu haben. Sie zeigt ihr Zimmer, das etwa so groß ist wie eine Zelle, aber dass sie sich mit eigenen Möbeln einrichten durfte. Vom Fenster aus blickt sie in den idyllischen Garten, in dem ein kleiner Springbrunnen plätschert. „Das ist noch für zwei Jahre mein Zuhause“, sagt die Inhaftierte. „Wer hier abhaut, muss doch blöd sein.“