Unfälle im StraßenverkehrWarum das Vorurteil gegen Ü60-Fahrer falsch ist

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Ein beschädigter weißer Wagen steht nach einem Verkehrsunfall in Oberbantenberg mitten auf der Straße, der rote Unfall-Pkw im Hintergrund ist auf dem Fußgängerweg gefahren.

Bei jedem dreizehnte Verkehrsunfall in NRW sitzt ein über 60 Jahre alter Fahrer am Steuer.

38.600 Unfälle in NRW sind in den vergangnen drei Jahren von Autofahrern über 60 Jahre verursacht worden. Trotzdem sind die über 60-Jährigen laut der Statistik nicht die Altersgruppe mit den meisten Unfällen - eher im Gegenteil.

Die Unglücksstelle war großflächig verwüstet, sogar ein Anschlag wurde zunächst nicht ausgeschlossen. Nachdem der Mercedes-SUV Ende November vergangenen Jahres in Höhe der Düsseldorfer Königsstraße einen anderen Wagen rammte, fuhr er weiter, knallte vor der nächstgelegenen Kreuzung gegen ein weiteres Auto und raste auf den Bürgersteig der entgegenliegenden Straßenseite. Dort mähte er drei Passanten regelrecht um, zertrümmerte eine Reihe abgestellter E-Scooter und riss schließlich mehrere fest verankerte Poller aus dem Boden. Weil sich einer davon in das Heck des SUV bohrte, blieb der Wagen endlich stehen.

Zwei der schwerverletzten Fußgänger schwebten zunächst in Lebensgefahr, konnten vom Notarzt jedoch stabilisiert werden. Der Unfallfahrer, ein 84-Jähriger aus Düsseldorf, war jedoch kein Attentäter. Er sei wohl vom Licht einer Ampel irritiert worden, habe daraufhin die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und stehe jetzt selbst unter Schock, teilte die Polizei kurz nach dem Geschehen mit.

NRW: 560 Unfälle durch Fahrer über 90 Jahre

Rund 38.600 Senioren über 60 Jahren sind in den Jahren 2020 bis 2022 in Nordrhein-Westfalen als Hauptverursacher von Verkehrsunfällen erfasst worden. 8.165 von ihnen waren 80 Jahre oder älter, 560 gehörten sogar der Altersgruppe 90 bis 100 an. Alleine im vergangenen Jahr waren 177 Hochbetagte dieser Altersgruppe Hauptunfallverursacher. Das geht aus einer Antwort des NRW-Verkehrsministeriums auf eine Anfrage aus der AfD-Landtagsfraktion hervor.

Sind Senioren die schlechteren Autofahrer? Die Statistik jedenfalls gibt das nicht her. Jeder fünfte Pkw-Fahrer, der bundeweit einen Unfall verschuldet hatte, war im Durchschnitt des vergangenen Jahrzehnts zwischen 18 und 24 Jahre alt. Lediglich jeder dreizehnte Unfallverursacher jedoch war 65 oder älter. Noch geringer war die Beteiligung, wenn es sich um Vorgänge mit Personenschäden gehandelt hat. Im Jahr 2020, dies sind die derzeit aktuellsten Daten, waren „65Plus“-Autofahrer lediglich zu 17,5 Prozent die Verursacher. Statistisch gesehen also sogar unterproportional, da diese Altersgruppe etwa 22 Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Vorurteil vom schlechteren Fahren älterer Menschen

Aber wie das so ist mit Statistiken: Nur wenige sind eindeutig interpretierbar. Die geringere Unfallbeteiligung von Senioren könne zum einen auch daran liegen, dass ältere Menschen nicht mehr täglich zur Arbeit fahren und somit seltener als jüngere am Straßenverkehr teilnehmen, unken Fachleute. Auch die „Pkw-Verfügbarkeit“ der älteren Menschen, insbesondere älterer Frauen sei „erheblich geringer als die der übrigen Erwachsenen“.

Andreas Hölzel kommt eher vom anderen Ende der Argumentationskette. „Dass ältere Autofahrer im Laufe ihres Lebens durchschnittlich immer gefährlicher werden, ist schlichtweg nur ein Vorurteil“, betont der ADAC-Experte. Das Gegenteil sei meist der Fall, vorausgesetzt ernsthafte Einschränkungen wie etwa eine extrem nachlassende Sehkraft würden mit einem Facharzt abgeklärt. „Die aktuelle Generation der älteren Autofahrer kann Defizite oft kompensieren, verfügt über eine nahezu lebenslange Fahrerfahrung und zeichnet sich überwiegend durch einen vorausschauenden Umgang mit dem Fahrzeug sowie einen meist besonnenen Fahrstil aus“, so Hölzel. „Sie meiden beispielsweise riskante Manöver und halten größeren Abstand.“

Fahrerfahrung der Ü60-Generation ist unersätzlich

Gerade weil man diese „Erfahrungswerte nicht hoch genug einschätzen“ könne, setze der ADAC sich verstärkt auch für den „Führerschein ab 16“ ein. Denn dann würden die Jugendlichen schließlich ein weiteres Jahr beim Fahren begleitet, könnten von den Erwachsenen lernen und ihre Routine verbessern.

Was das entgegengesetzte Ende der Alterspyramide betrifft: Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft plädierte zwar schon vor Jahren für ein von Verkehrspsychologen begleitetes Fahren auch für Senioren ab 75. Aber dass derartige „Rückmeldefahrt“ tatsächlich Vorschrift werden, scheint derzeit unmöglich. Obwohl die Idee „im Grundsatz, abgesehen von einer Pflicht, ausgesprochen gut“ sei, so Hölzel. Der ADAC vermittele deshalb über seine Regionalclubs besonders geschulte Fahrlehrer, die ältere Menschen begleiten, um ihnen anschließend ein Feedback bezüglich ihrer Fahrweise zu geben. „Ratschläge und Hinweise, ein freiwilliger Austausch, ohne dass die Leute die Angst haben müssen, die Probefahrt führe zu unmittelbaren Konsequenzen wie etwa eine Meldung bei der örtlichen Führerscheinstelle“, betont der Verkehrsclub-Experte. Coronabedingt seien 2021 aber lediglich 1278 dieser Fahrten durchgeführt worden, 2019 etwa seien es noch etwa doppelt so viele gewesen.

23.500 Autofahrer in NRW haben ihren Führerschein zurückgegeben

Konsequenzen indes ziehen einige Senioren gelegentlich auch selbst. Laut dem Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg haben von 2015 bis 2021 insgesamt rund 23.500 Personen in NRW ab 60 Jahren ihren Führerschein freiwillig abgegeben - rund 62 Prozent davon Männer. Demnach verzichteten hier allein im Jahr 2021 insgesamt 3762 Personen ab 60 Jahren auf ihre Fahrerlaubnis. In der Altersgruppe ab 80 Jahren waren es 2316 Menschen, darunter waren 233 Männer und 100 Frauen, die bereits 90 Jahre oder älter waren.

Erzwingen aber lässt sich der Verzicht auch im hohen Alter nicht. Der Verwaltungsgerichtshof München urteilte: Verkehrsbehörden dürfen nur beim Vorliegen konkreter Diagnosen oder Symptome ein ärztliches Gutachten zur Fahrtauglichkeit von Senioren fordern. „Die Fahrerlaubnis wird in Deutschland - außer bei Bus- und LKW-Fahrerlaubnisklassen - unbefristet erteilt", stellt der nordrhein-westfälische Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) in seinem Papier für den Landtag klar. Insbesondere für ältere Menschen bedeute „die Fahrerlaubnis Mobilität und Flexibilität, sichert ihnen Selbständigkeit und Unabhängigkeit und ist oft Voraussetzung, um soziale Kontakte auch über größere Entfernungen hinweg zu pflegen", so Krischer. Dies gelte gerade auch für ländliche Gebiete.

Die Landesregierung setzt auf Freiwilligkeit und Eigenverantwortung

Demgegenüber jedoch stehe „die Tatsache, dass bei jedem Menschen - individuell ganz unterschiedlich - irgendwann ein Zeitpunkt erreicht sein kann, an dem die Fahreignung nicht mehr gegeben ist“, ergänzte der Minister. Die Landesregierung setze deshalb auf „Freiwilligkeit und die Stärkung der Eigenverantwortung“. Wie viele Senioren ihre Fahrtauglichkeit überprüfen lassen, werde statistisch nicht erfasst.

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