Wie kommt es zur Versorgungslücke?Kinderärzte in NRW beklagen Überlastung

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Ein Kinderarzt untersucht ein Kleinkind mit einem Stethoskop und hört ihm die Brust ab.

Obwohl die Versorgung mit Kinderärzten statistisch gesehen gut ist, beklagen die Mediziner einen Mangel.

Obwohl NRW statistisch zu 100 Prozent oder mehr mit Kinderärzten versorgt ist, beklagen Eltern fehlende Praxisplätze und Mediziner Überlastung. Worin das Problem liegt.

Arbeiten am Limit: So beschreiben viele Kinder- und Jugendärzte in NRW ihre Tätigkeit in den vergangenen Wintermonaten. Die Wartezimmer waren voll, Eltern mit akut erkrankten Kindern standen förmlich Schlange. Vorsorgeuntersuchungen, ganze Kindergartengruppen, die am RS-Virus erkrankten und dazu noch Corona. Normaler Praxisalltag? War so gut wie unmöglich. Nicht akute Untersuchungen mussten verschoben werden. Nachholterminierung ungewiss.

„Stellen Sie sich ein Boot vor. Ich bin der Kapitän eines kleinen Bootes und fahre wie eine Fähre immer hin und her über den Rhein. Doch es kommen immer mehr Personen, die nicht immer sofort wieder aussteigen. Und immer mehr, und noch mehr Menschen. Irgendwann liegt die Fähre sehr tief im Wasser, weil sie zu viel geladen hat. Sie fährt aber noch, und es kommen weiter Menschen hinzu. Und dann. Dann kommt eine Welle.“

So beschreibt Michael Achenbach die Situation der Kinder- und Jugendärzte in NRW. Der 54-Jährige ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) für Westfalen-Lippe und betreibt eine Kinderarztpraxis in Plettenberg im Märkischen Kreis.

Versorgung ist laut Planungsvorgaben eigentlich gesichert

Denn die RS-Viren und zuvor die Corona-Pandemie sind für die Ärzte nur die Spitze des Eisbergs.  Kinderarztpraxen sind grundsätzlich überlaufen. Viele Eltern kennen das: Nach der Geburt oder einem Umzug suchen sie verzweifelt nach einem Arzt, der ihr Kind noch aufnimmt. Häufig müssen sie weite Wege auf sich nehmen, um einen Arzt für ihr Kind zu finden - vor allem in ländlichen Gebieten. Kinder- und Jugendärzte klagen ebenfalls über die zu hohe Belastung. Wer auf die Versorgungszahlen blickt, stutzt mit derlei Klagen im Hinterkopf: Denn die Versorgung ist laut Planungsvorgaben des Bundes NRW-weit gesichert.

Michael Achenbach ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) für Westfalen-Lippe. Er ist im Porträt zu sehen.

Michael Achenbach ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) für Westfalen-Lippe.

In Köln käme beispielsweise auf 2027 Kinder ein Arzt im Stadtgebiet. Laut den Zahlen der Bedarfsplanung mit Stand von Oktober 2022 gebe es in Köln rund 95 Kinder- und Jugendärzte. Bei einer Einwohneranzahl von 174.785 im Planungsbereich ist die Stadt damit zu 110,5 Prozent versorgt.

Auch im Märkischen Kreis, wo Michael Achenbach in Plettenberg nach eigener Aussage rund 5000 Kinder versorgen muss, sei eine Versorgung von 115 Prozent gewährleistet, heißt es von der KV Westfalen-Lippe. Dort kommen durchschnittlich laut Angabe eines Sprechers auf einen Versorgungsauftrag im Verbreitungsgebiet – also einen Kinder- und Jugendarzt – 2462 Kinder und Jugendliche.

„In keinem Planungsbereich in Westfalen-Lippe besteht derzeit in der Fachgruppe der Kinderärzt*innen eine Unterversorgung oder droht unmittelbar“, sagt dazu die KV Westfalen-Lippe. Auch die KV Nordrhein betont, dass gemessen an den Planungsvorgaben formal kein „Mangel“ festzustellen sei. Zuletzt seien sogar „nur“ 7,5 weitere Zulassungen für Kinder- und Jugendärzte nordrheinweit verfügbar gewesen.

Wir Kinderärzte reden seit Jahrzehnten davon, dass wir einen Mangel erwarten. Jetzt tun alle sehr überrascht.
Dr. Axel Gerschlauer, Kinderarzt in Bonn und Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein

Wie passen diese Zahlen zusammen mit der Überbelastung der betroffenen Ärzte sowie den Klagen der Eltern, die den Eindruck haben, um Plätze für ihre Kinder kämpfen zu müssen?

Der Ursprung für die strukturelle Überlastung der Kinder- und Jugendärzte in Nordrhein-Westfalen ist laut Axel Gerschlauer, Sprecher des BVKJ Nordrhein, weit in der Vergangenheit zu suchen. Teil des Problems sei unter anderem die Bedarfsplanung für die Verteilung der Pädiater. „Wir Kinderärzte reden seit Jahrzehnten davon, dass wir einen Mangel erwarten“, so Gerschlauer. „Genau das ist jetzt eingetroffen und alle tun sehr überrascht. Dabei ist es ein famoses Politikversagen.“

Kinderarzt Axel Gerschlauer aus Bonn hält sich ein Mobiltelefon ans Ohr.

Axel Gerschlauer, Niedergelassener Kinderarzt in Bonn und Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein.

Kassenärztliche Vereinigungen müssen Versorgung sicherstellen

Die Bedarfsplanung sei in den 1990er-Jahren eingeführt worden, damals noch, um das Wachstum der Ärztezahl zu begrenzen. Inzwischen sei die Richtlinie jedoch ein Steuerungsinstrument der regionalen Verteilung der Ärztinnen und Ärzte, heißt es auf der Internetseite der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

„Das für die Bedarfsplanung ausschlaggebende Gremium ist der Bundesausschuss (G-BA) in Berlin“, erklärt Christopher Schneider, stellvertretender Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein auf Anfrage. Der G-BA erlasse die Richtlinien für die Planungsbereiche für die einzelnen ärztlichen Fachgruppen und definiere die Zahlenverhältnisse zwischen Vertragsärzten und gesetzlich Versicherten. „Diese Richtlinien werden von den Kassenärztlichen Vereinigungen zusammen mit den gesetzlichen Krankenkassen regional umgesetzt“, so Schneider weiter.

Eine Unschärfe: „Kinderärzte sind gesetzlich Hausärzte“, sagt Michael Achenbach. Und werden von Eltern ja auch als solche als Erstanlaufstelle genutzt. „Hausärzte werden in der Bedarfsplanung kommunal geplant", sagt Achenbach. Ihre Zahl übertrifft die der Fachärzte bei Weitem. „Kinderärzte werden in der Planung aber als Fachärzte gehandelt und deshalb regional größer verteilt, nämlich auf Stadt- und auf Landkreisebene“, sagt Achenbach. Ihre Zahl ist also geringer als sie es ihrer Aufgabe entsprechend sein müsste.

Ärzte gehen lieber in die Städte

Eine weitere Erklärung für die Überlastung vieler Kinderärzte ist in der Systematik der „Mitversorgung“ in der Bedarfsplanung zu suchen. Hier heißt es bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung: „Auf der Versorgungsebene werden bei der Betrachtung der Kreise Mitversorgungsaspekte der Regionen berücksichtigt.“ Für den Arzt Michael Achenbach bedeutet das zum Beispiel, er kümmert sich auch um Patientinnen und Patienten aus dem Umland.

„Statistisch gesehen kommen auf einen Kinderarzt etwa 2400 Kinder“, so Achenbach. „In meinem Ort habe ich 4000 bis 5000 Kinder zu versorgen. Es ist komplett utopisch, das zu schaffen.“

Wir waren früher hier zu dritt in der Praxis, dann zu zweit, und jetzt arbeite ich alleine.
Dr. Michael Achenbach, Kinderarzt in Plettenberg

Bei ihm auf dem Land sei es nämlich schwierig, Nachfolger für Kinderarztpraxen zu finden, oder überhaupt Pädiater, die bereit wären, sich niederzulassen, berichtet der Mediziner. Junge Nachwuchsärzte zieht es nämlich eher in die Städte, wo bessere Infrastrukturen mit Kita-Plätzen oder OGS-Betreuung geboten seien. Das Land hat das Nachsehen: „Wir waren früher hier zu dritt in der Praxis, dann zu zweit, und jetzt arbeite ich alleine. Ich habe aber immer noch größtenteils die Patientenkartei für das, was drei Ärzte geleistet haben“, sagt Achenbach.

Diese Probleme sehen auch die Kassenärztlichen Vereinigungen und versuchen, mit Förderprogrammen gegenzusteuern. Weil es oft keine interessierten Kandidaten gebe, könnten vakante Praxissitze häufig nicht eins zu eins weitergeführt werden, sagt Christopher Schneider. „Um die Niederlassungen insbesondere in ländlichen Gebieten zu fördern, unterstützt die KV Nordrhein finanziell im Rahmen des Strukturfonds Niederlassungen mit bis zu 70.000 Euro.“

Mehr Aufwand und neu aufgetretene Krankheiten machen Kinderärzten zu schaffen

Währenddessen schätzt sich Achenbachs Kollege Axel Gerschlauer mit seiner Praxis in Bonn noch glücklich. „Gegen die Kollegen auf dem Land haben wir es hier in der Stadt richtig gut. Wo wir 50 Wochenstunden arbeiten, können das bei Kolleginnen und Kollegen auf dem Land 70 bis 80 Stunden sein.“

Ein weiterer Grund für die gefühlte Unterversorgung besteht laut Achenbach darin, dass die Planung den aktuellen Begebenheiten hinterherhinke: „In den letzten Jahrzehnten hat sich allein der Aufwand der Vorsorgeuntersuchungen pro Patient verdoppelt. Eltern kommen mit ihren Kindern auch noch mit ganz anderen Krankheiten zu uns als früher.“

Eltern sind unsicher um Umgang mit Krankheiten

Das bestätigt auch Axel Gerschlauer und verweist auf neu in den Praxen auftretende Krankheiten wie Sprachentwicklungsstörungen, Übergewicht oder psychosoziale Probleme wie ADHS. Hinzu komme nach Michael Achenbachs Ansicht, dass sich viele Eltern gewisser Krankheiten nicht mehr selbst annähmen. „Die Menschen trauen sich nicht mehr, so viel selbst zu machen wie früher. Wegen Krankheiten, die früher zu Hause mit Hausmitteln behandelt wurden, kommen heute viele zu uns in die Praxen.“

Es gehe nicht darum, dass das falsch ist. „Allerdings scheint viel Wissen, dass früher immer von Eltern zu Kindern über die Pflege von alltäglichen Krankheiten weitergegeben wurde, seit einer Generation immer mehr verloren zu gehen.“ Es koste die Kinderärzte also zusätzlich Zeit und Arbeit, den unsicheren Eltern den Umgang mit ihren kranken Kindern zu erklären.

Junge Ärzte fordern bessere Work-Life-Balance

„Wir brauchen ganz klar mehr Medizinstudentinnen und -studenten“, fordert Gerschlauer und bezieht sich damit auch auf die Anzahl der verfügbaren Studienplätze, die in der Vergangenheit stark reduziert worden seien, denn die Interessenten seien durchaus vorhanden. Aber auch die Arbeitsbedingungen müssten sich ändern: „Die Work-Life-Balance muss verbessert werden.“

Während Ärzte früher klaglos Überstunden in Kauf genommen hätten, werde man „einen Mittdreißiger nicht mehr dazu kriegen – und das ist auch gut so“, sagt Gerschlauer.

Mehr Studienplätze reichen nach Ansicht von Michael Achenbach allerdings nicht aus, um die aktuelle Lage zu entspannen. Bis heutige Studienanfänger als Fachärzte in die Praxen kämen, zögen locker fünfzehn Jahre ins Land. Eine Wartezeit, die das Gesundheitssystem ins Wanken bringen könnte.

Schutzwall für die Kliniken

„Wir sind mit unseren Praxen ja auch der Schutzwall für die Kliniken", sagt Achenbach. „80 bis 90 Prozent der Infekte laufen bei uns auf. Wenn wir die nicht mehr betreuen können, das nicht mehr leisten können, dann geht es an die Kliniken.“ Und das ist dann eine Welle, die das Boot zum Kentern bringen kann.

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