„Viele in panischer Angst“Warum das Kirchenasyl in NRW so gefragt ist

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Tammam Zeno, Familienvater aus Syrien, hält seine Tochter Ritta im Arm. Von Ritta ist nur der Rücken zu sehen, sie möchte nicht erkannt werden. Die beiden fanden Unterschlupf im Kirchenasyl in Köln.

Tammam Zeno und seine Tochter Ritta aus Syrien fanden Unterschlupf im Kölner Kirchenasyl - sonst wären sie nach Polen abgeschoben worden.

Viele Geflüchtete haben nach ihrer Zeit im Kirchenasyl eine Bleibeperspektive. Die Beratungsstellen suchen dringend neue Mitarbeitende. 

Tammam Zeno (44) und seine Tochter Ritta (18) aus Syrien kamen im Februar 2022 über Russland und Belarus nach Polen. Als sie sich registrierten, warfen die Behörden ihnen vor, illegal eingereist zu sein und inhaftierten sie.

„Ich habe im Gefängnis Albträume bekommen, wir waren verzweifelt, das Gefängnis war eine sehr schlimme Erfahrung“, sagt Ritta beim Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Kölner Beratungsstelle des Ökumenischen Netzwerks Asyl in der Kirche NRW. Ohne einen Platz im Kirchenasyl wären Vater und Tochter nach Polen abgeschoben worden.

Familie aus dem Irak war in Litauen fast ein Jahr im Gefängnis

Wer für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, regelt in der Europäischen Union die sogenannte Dublin-Verordnung. Demnach muss derjenige Staat sich um den Antrag kümmern, in dem die Geflüchteten landen beziehungsweise per Fingerabdruck gemeldet werden. „In vielen Fällen ist es allerdings menschlich unzumutbar, dass die Menschen dorthin zurückmüssen, wo sie registriert worden sind“, sagt Tom Brandt, Berater für Kirchenasyl in der Kölner Kartäusergasse.

Er erzählt von einer jungen Familie mit kleinem Kind aus dem Irak, die in Litauen fast ein Jahr lang im Gefängnis gesessen hätten, und einer Familie aus Afghanistan, „die mit sogenannten Pushbacks 36 Mal davon abgehalten wurde, die Grenze von Bosnien nach Kroatien zu überqueren – samt schwerer körperlicher Gewalt“.

Ritta hat die Zeit im Gefängnis traumatisiert
Tom Brandt, Berater für Kirchenasyl in Köln

Bei Tammam und Ritta Zeno wären „die Folgen einer Überstellung nach Polen humanitär nicht vertretbar gewesen“, sagt Brandt. „Ritta hat die Zeit im Gefängnis traumatisiert.“ Der Berater organisierte einen Platz im Kirchenasyl in Bilderstöckchen für die beiden.

Das Netzwerk reichte ein eigens verfasstes Dossier beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein, in dem der Fall geschildert und begründet wurde, warum eine Abschiebung nach Polen nicht vertretbar sei. „Die meisten Argumente werden vom BAMF allerdings nicht akzeptiert“, sagt Tom Brandt.

Tom Brandt, Berater des Netzwerks Kirchenasyl NRW in Köln, steht vor dem Eingang zur Beratungsstelle in der Kölner Kartäusergasse.

Berater Tom Brandt (31)

Binnen sechs Monaten hätten Vater und Tochter laut Bestimmungen des Dublin-Verfahrens nach Polen überstellt werden müssen. Das Kirchenasyl, das sich in einer rechtlichen Grauzone befindet, in der Regel aber als Schutzraum von den abschiebenden Ausländerbehörden akzeptiert wird, hat sie davor bewahrt. Inzwischen ist die Frist abgelaufen – die Zenos können in Deutschland einen Asylantrag stellen.

40 Menschen warteten im Hof auf einen Beratungstermin

Fälle wie jenen der beiden Syrer bearbeitet die Beratungsstelle immer öfter. Als Tom Brandt vor eineinhalb Jahren begann, für das Netzwerk Kirchenasyl zu arbeiten, seien „im Schnitt sechs bis sieben Geflüchtete“ montags zur Beratung gekommen. In den Öffnungszeiten zwischen 9 und 14 Uhr sei das gut zu bewältigen gewesen.

„Inzwischen sitzen wir hier immer mindestens bis 20 Uhr, oft auch bis 23 Uhr und noch viel länger – wir kommen schon lange nicht mehr hinterher, wir gehen oft nicht mehr ans Telefon und sagen sehr vielen Menschen ab“, sagt Brandt, der hauptberuflich als Musiker und Schauspieler sein Geld verdient.

„In der vergangenen Woche saßen rund 40 Menschen im Hof – viele von ihnen in panischer Angst, von der Zentralen Ausländerbehörde in das EU-Land abgeschoben zu werden, in dem sie nach ihrer Flucht zuerst gelandet sind.“ Ein Mitarbeiter ist zudem erkrankt. Die Beratungsstelle braucht dringend Verstärkung.

In NRW gibt es derzeit etwa 120 Kirchenasyle, in denen rund 150 Menschen leben. Tammam und Ritta Zeno sind dankbar, dass sie Plätze bekommen haben und nicht zurück nach Polen mussten. „Ich hoffe, dass meine Mutter und meine drei Geschwister, die noch in Syrien sind, bald auch nach Deutschland kommen können“, sagt Ritta. Die Chancen, dauerhaft hier bleiben zu dürfen, ist für Syrer sehr gut. „Ich möchte Abitur machen und studieren“, sagt Ritta, die sehr gut Englisch spricht, für ihren Vater alles übersetzt und längst Deutsch lernt.

„Frauen aus Guinea in Spanien oft Opfer von Zwangsprostitution“

Die meisten der mehreren Tausend Menschen, die in den vergangenen 20 Jahren zwischenzeitlich in einem der Kirchenasyle in Nordrhein-Westfalen untergekommen sind, haben in der Folge eine Bleibeperspektive erhalten. „Das ist wohl auch ein Grund für die Vervielfachung der Anfragen“, sagt Brandt. „Es hat sich rumgesprochen.“

Sinn ergibt das Kirchenasyl primär für Menschen, die akut von einer Abschiebung in ein EU-Land bedroht sind, in denen ihnen eine schlechte Behandlung drohe, sagt der 31-Jährige. Das gelte zum Beispiel auch für junge Frauen aus Guinea, die in Spanien zuerst aufgenommen worden seien, „weil sie in Spanien nicht selten von Zwangsprostitution betroffen sind“.

Im Kirchenasyl erhalten Menschen meistens keine Sozialleistungen, Krankenversorgung gewährleistet oftmals nur die Kirche. Verlassen die Geflüchteten das Gemeindegelände, laufen sie Gefahr, aufgegriffen und abgeschoben zu werden.

Netzwerk ist auf Spenden angewiesen

Die Arbeit der Geschäftsstelle wird zum Großteil von der Evangelischen Kirche im Rheinland finanziert. Rund 20.000 Euro pro Jahr müssen durch Spenden refinanziert werden. Bis zum 31. Dezember 2022 hat die Bethe-Stiftung von Erich und Roswitha Bethe sich bereiterklärt, Spenden bis zu einer Höhe von insgesamt 10.000 Euro zu verdoppeln.

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