Als Kinder haben sie Ghettos, Lager und Verfolgung durch die Nazis überlebt. 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs berichten Holocaust-Überlebende in Odessa, wie der russische Angriffskrieg ihre schlimmsten Erinnerungen zurückbringt – und was sie sich von Deutschland erhoffen.
Odessas letzte ZeugenWie Holocaust-Überlebende Russlands Krieg erleben

„Ich erinnere mich noch an den Geruch verbrannter Leichen in Odessa“: Der Gründungsdirektor des Museums, Victor Sabulis.
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Arkadiy Khasin hat als Jude aus der besetzten ukrainischen Hafenstadt Odessa den Zweiten Weltkrieg überlebt. Als Kind trotzt er Kälte und Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit im Ghetto Slobidka, wo sein Vater an Typhus stirbt, und im Todeslager Domanivka. Nach der Befreiung durch die Rote Armee läuft Khasin mit seiner Schwester und seiner Mutter zu Fuß 150 Kilometer in seine Heimatstadt. „Wir waren fast nackt und hatten keine Schuhe“, erinnert er sich 80 Jahre nach Kriegsende. „Aber wir waren glücklich, weil wir frei waren.“ Was sich der heute 95-Jährige niemals hätte vorstellen können: Dass er noch einmal einen Krieg durchleben muss.
Am 16. Oktober 1941 besetzt die mit den Nationalsozialisten verbündete rumänische Armee – unterstützt von deutschen Soldaten - Odessa. Während der Belagerung in den Monaten davor fliegt die deutsche Luftwaffe schwere Angriffe auf die Schwarzmeermetropole, um die sowjetische Verteidigung zu zermürben. Khasin fühlt sich heute an diese schreckliche Zeit erinnert. „Es ist wie mit den Nazis 1941“, sagt der Holocaust-Überlebende, der körperlich gebrechlich, im Geiste aber fit ist. „Jede Nacht gibt es Luftangriffe und unschuldige Menschen sterben. Die Russen schießen Raketen auf ukrainische Orte und töten Frauen und Kinder, es ist schrecklich.“
Mit dem Herzen immer in Odessa
Khasin lebt in einer Einzimmerwohnung in einem Wohnblock aus sowjetischen Zeiten. An der Wand hängen Bilder von ihm und seiner vor fünf Jahren verstorbenen Ehefrau Zhanna. Eines der Fotos zeigt das Paar auf einer Brücke in Paris, im Hintergrund ist der Eiffelturm zu sehen, Khasin winkt in die Kamera. Nach dem Krieg ist er ein halbes Jahrhundert lang zur See gefahren, erst als Heizer, dann als Mechaniker. „Ich habe fast die ganze Welt gesehen“, sagt er. Außerdem hat Khasin mehrere Bücher verfasst, noch heute schreibt er für eine lokale Zeitung.
Deutschland ist Khasin trotz der furchtbaren Erfahrungen in der Vergangenheit dankbar. „Ich habe großen Respekt dafür, dass Deutschland die eigene Verantwortung anerkannt hat.“ Die Bundesregierung hat die Kosten für eine Herzoperation seiner Ehefrau übernommen und zahlt dem Ex-Zwangsarbeiter eine kleine Rente. Das Ehepaar hat 18 Jahre in Mainz gelebt, erst nach dem Tod seiner Frau ist Khasin zurückgekehrt in seine Heimatstadt am Schwarzen Meer. „Es ist schön in Deutschland, aber mein Herz war immer in Odessa.“ Was er sich nur wünschen würde: „Putin muss endlich diesen Krieg stoppen.“

Odessa im Mai 2025: Ein Mann untersucht die Ruinen seines Hauses, das durch einen russischen Drohnenangriff zerstört wurde.
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Auch Liudmyla Kleiner ist Odessa trotz traumatischer Kindheitserlebnisse treu geblieben. Als Tochter eines jüdischen Vaters hat sie eines der Ghettos überlebt, die die Besatzer errichtet hatten. Ein Straßenfeger habe die Familie denunziert und fälschlicherweise angegeben, dass alle Mitglieder Juden wären. „Ich weiß noch genau, wie meine Mutter weinte und schrie, als die rumänischen Soldaten kamen, um uns zu deportieren.“ Die Mutter sei im Ghetto knapp einem Erschießungskommando entgangen, der Vater habe nach der Befreiung durch die Rote Armee zu den wenigen Überlebenden eines Vernichtungslagers gehört.
Enttäuscht von westlichen Politikern
Nach dem Krieg studiert Kleiner Englisch, danach arbeitet sie als Fremdenführerin in Odessa und macht Karriere, sie wird Direktorin von zwei Hotels. Heute freut sich die elegante 86-Jährige, der man ihr Alter nicht ansieht, ausnahmsweise wieder Englisch sprechen zu können, ausländische Touristen bleiben seit dem russischen Überfall auf die Ukraine aus. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin hat sie nur Verachtung übrig. „Ich würde ihn nicht einmal als einen Menschen bezeichnen“, sagt Kleiner. „Ich sehe, dass weite Teile der Welt die Ukraine unterstützen, aber das reicht nicht. Der Krieg eskaliert immer weiter.“

Für Wladimir Putin hat die Holocaust-Überlebende Liudmyla Kleiner nur Verachtung übrig.
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Putin behaupte nur, verhandlungsbereit zu sein, meint Kleiner. „Er sollte die Gebiete zurückgeben, die er besetzt hält.“ Mit Blick auf Politiker wie US-Präsident Donald Trump, der die Anerkennung der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim ins Spiel gebracht hat, sagt sie: „Ich bin sehr enttäuscht von westlichen Politikern, die wollen, dass wir unsere Gebiete abtreten.“ Auch Kleiner betont: „Ich hätte niemals gedacht, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Wir haben doch so viel gemeinsame Geschichte.“
Ich hätte niemals gedacht, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Wir haben doch so viel gemeinsame Geschichte.
Die Seniorin glaubt, dass Putin die gesamte Küste der Ukraine erobern und das Land vom überlebenswichtigen Schwarzen Meer abschneiden möchte. Die wichtigste Metropole an der Küste: Odessa, wo vor dem russischen Überfall rund eine Million Menschen gelebt haben.
Größte Gemeinde Osteuropas
Die Hafenstadt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Heimat einer der größten und lebendigsten jüdischen Gemeinden in Osteuropa, wie es in der Holocaust-Enzyklopädie des United States Holocaust Memorial Museums heißt. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs hätten dort noch rund 200.000 Juden gelebt. „Innerhalb eines Jahres nach Beginn der Besetzung von Odessa war die jüdische Gemeinde aus der Vorkriegszeit weitestgehend vernichtet.“ Unter den Bewohnern Odessas sind heute nach Schätzungen der jüdischen Gemeinde nur noch rund 25.000 Juden.
Im Holocaust-Museum in Odessa, das versteckt in einem Hinterhof liegt, wird an die vielen Toten nicht nur in der Schwarzmeermetropole erinnert. Rund 1,6 Millionen der etwa 2,5 Millionen Juden in der Ukraine hätten ihr Leben verloren. „Die größte Anzahl sowjetischer Juden wurde auf dem Gebiet der Ukraine getötet.“
Auch vor diesem Hintergrund wirkt das Argument aus Teilen der Friedensbewegung, dass deutsche Waffen nie wieder gegen Russland eingesetzt werden dürfen, wenig überzeugend – schließlich sind deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg auch in der Ukraine für massenhaft Tod und Vernichtung verantwortlich gewesen. Kleiner hält es für kaum nachvollziehbar, aus historischen Gründen dem Opfer eines Überfalls nicht zu Hilfe zu kommen. „Die Menschen müssen verstehen, dass die Ukraine nicht angreift, sondern sich verteidigt.“
Ein Strick, mit dem eine junge Jüdin gehängt wurde
In einer Vitrine im Museum in Odessa ist die Geige eines Fluchthelfers ausgestellt, der hingerichtet wurde. Daneben ist ein Strick, mit dem eine junge Jüdin gehängt wurde. Ein Ukrainer, der in sie verliebt war, hat das Seil 69 Jahre lang aufbewahrt, bevor er es dem Museum übergeben hat, wie Vizedirektor Eli Persner sagt.
Ein Schaukasten zeigt, wie massenhaft Juden erschossen werden, ein anderer, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Der Gründungsdirektor des Museums, Victor Sabulis, sagt: „Ich erinnere mich noch an den Geruch verbrannter Leichen in Odessa.“ Der heute 86-Jährige war mit seiner jüdischen Mutter in einem Ghetto interniert. „Die rumänischen Soldaten waren sehr interessiert an Schmiergeld“. Mit Bestechung seien sie schließlich freigekommen.
Andere hatten weniger Glück. Im Holocaust-Museum ist ein typisches Zimmer aus einem Schtetl, einer jüdischen Siedlung, nachgebildet. Die Familie, deren Pendeluhr an der Wand hängt, ist während der Besatzung vollständig ausgelöscht worden. In einem Nebenraum steht eine große Truhe. In ihr habe sich drei Jahre lang ein jüdisches Mädchen vor den Nazis und ihren Verbündeten versteckt, sagt Vizedirektor Persner. „Nur nachts konnte sie raus.“
Volodymyr Bardashevskyi hat sich die meiste Zeit der Besatzung nicht in einer Truhe, sondern unter der Erde verbracht. „Kurz davor hatte meine Familie die Möglichkeit, mit einem Schiff zu fliehen“, sagt der heute 87-Jährige. Weil er zu krank für die Reise gewesen sei, sei er allein mit seinem Großvater zurückgeblieben. „Er hat mich in einem Keller in einem Dorf in der Nähe von Odessa versteckt.“ Ein Anwohner habe damit gedroht, den Besatzern zu verraten, dass die Mutter des Jungen Jüdin sei. „Mein Großvater musste ihn bestechen, damit er schwieg. Aber Gott hat den Mann bestraft. Nach dem Krieg ist er von einem Dach gefallen und gestorben.“
Bardashevskyi erinnert sich an den Hunger, der in der Zeit im Versteck sein ständiger Begleiter gewesen sei. „Manchmal hatten wir nur einen Stock, den wir in etwas Butter tauchten und dann ableckten.“ Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm der Tag der Befreiung durch die Rote Armee, die am 10. April 1944 in Odessa einmarschierte. Im Museum zeigt ein überlebensgroßes Foto die Soldaten vor dem berühmten Opernhaus der Stadt.
Dieses Mal sind die Russen die Angreifer
Heute ist der Krieg in Odessa wieder präsent, dieses Mal sind die Russen die Angreifer. „Meine Frau hat Angst vor ihren Drohnen und Raketen“, sagt Bardashevskyi, der bis zur Pensionierung als Elektroingenieur gearbeitet hat. „Ich versuche, sie dann aufzuheitern, und sage ihr, dass wir gar nicht mehr merken würden, wenn wir getroffen würden.“ Ob das seine Ehefrau beruhige? „Nein, es hilft nicht wirklich“, räumt er ein. „Es macht keine Freude, im Krieg zu leben.“
Für Putins Behauptung, in Kiew herrsche ein Nazi-Regime, das gewaltsam beseitigt werden müsse, hat Bardashevskyi nur Spott übrig. „Der Jude Wolodymyr Selenskyj soll ein Nazi sein?“, fragt er mit Blick auf den ukrainischen Präsidenten. Wie in jedem Land gebe es auch in der Ukraine Antisemitismus. „Aber ich als Jude fühle mich hier nicht unter Druck. Und wir hätten uns früher nie vorstellen können, dass ein Jude einmal Präsident wird.“
Dass Trump den Krieg wie versprochen beenden könnte, glaubt Bardashevskyi nicht. „Trump ist komplett unberechenbar“, sagt er. „Aber diese Unberechenbarkeit führt immerhin dazu, dass Europa aufwacht.“ Die Unterstützung durch die Europäer sei aber nicht ausreichend. Er hoffe auf den neuen Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), der der Ukraine mehr Hilfe versprochen habe. „Die Deutschen müssen erkennen, dass das nicht nur Putins Krieg ist. Millionen Russen sind einer Gehirnwäsche unterzogen und möchten uns bekämpfen.“
An die von Putin angekündigte dreitägige Waffenruhe zum 80. Jubiläum des Sieges über Nazi-Deutschland knüpft Bardashevskyi keine Hoffnungen. „Putin hat nur Angst davor, dass die Ukraine seine Parade in Moskau angreift, mehr steckt nicht dahinter.“ Mit einem baldigen Kriegsende rechne er nicht. „Wir Ukrainer wünschen uns Frieden. Aber die Frage ist, ob die Russen Frieden wollen.“ Bardashevskyi ist überzeugt: „Sie wollen ihn nicht.“
Mitarbeit: Yurii Shyvala