Pflege-Demo in Essen„Skandal“ – Nach zehn Wochen bewegt sich Laumann erstmals

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt

500 Streikende sind nach Essen gekommen.

Essen – Als Sarah Kaiser vor vier Jahren ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester begonnen hat, war sie von einem hehren Ziel beseelt. Sie wollte Menschen helfen, pflegen, für sie da sein. Heute, vier Jahre später, überlagert Frustration den Idealismus.

Seit einem Jahr arbeitet sie fest in der Kinderonkologie des Essener Uniklinikums. Sie erzählt von chronisch unterbesetzten Schichten und Akkordarbeit. Von schwerkranken, verängstigten Kindern und Eltern im seelischen Ausnahmezustand, mit denen zu reden sie kaum noch Zeit habe. Fünf Betten habe sie zu betreuen. Mindestens zwei Krankenpflegerinnen seien für eine angemessene Versorgung notwendig. Die meisten Schichten aber müsse sie allein bewältigen.

Fünf Kolleginnen warfen das Handtuch innerhalb eines Jahres

In den vergangenen zwölf Monaten hätten fünf ihrer Kolleginnen und Kollegen das Handtuch geworfen und sich andere Jobs gesucht, in Branchen, die mit Pflege nichts mehr zu tun haben. Auch Kaiser kann sich nicht vorstellen, unter den aktuellen Bedingungen den Beruf bis zur Rente auszuüben.

An diesem Donnerstagvormittag steht die 23-Jährige am Streikzelt vor dem Haupteingang der Essener Uniklinik und kämpft gemeinsam mit 500 anderen für bessere Arbeitsbedingungen. Seit zehn Wochen bereits tobt an den sechs Unikliniken in NRW der Streik, angeführt von der Gewerkschaft Verdi.

Pflegen bis zur Erschöpfung

Die Beschäftigten klagen über chronische Unterbesetzung auf den Stationen, über zu wenig Zeit für die Versorgung der Patientinnen und Patienten, über ein Berufsleben im Dauerstress, über Pflegen bis zur Erschöpfung. Ihre Forderungen hat Verdi in ein Papier mit dem Namen „Tarifvertrag Entlastung“ gegossen. Die Beschäftigen wollen einen angemessenen Ausgleich dafür, dass sie ein, wie sie sagen, durch und durch marodes und von Profitgier geleitetes Gesundheitssystem trotz widrigster Umstände am Laufen halten. Bis zu 20.000 Mitarbeitende würden nach Angaben von Verdi von einer Einigung profitieren.

1800 Betten an sechs Standorten gesperrt

Die Lage ist angespannt. Die vergangenen zweieinhalb Monate haben den Kliniken schwer zugesetzt. In der Spitze waren an den sechs Standorten 1800 Betten gesperrt, nur die Hälfte der Operationssäle sind derzeit besetzt. Tausende Eingriffe mussten verschoben werden. Allein die Uniklinik Bonn führt nach eigenen Angaben eine Warteliste von etwa 1000 Patientinnen und Patienten.

Die Kliniken hatten einiges versucht, den Streik ihrer Mitarbeitenden zu brechen. Die Chefärzte der Onkologien und der Unfallchirurgien etwa hatten offene Briefe geschrieben und mit einem Appell an das Gewissen die Streikenden davor gewarnt, schwerkranke Menschen zu verängstigen und in Lebensgefahr zu bringen. Die Kliniken zogen mit Eilanträgen vor Gerichte, doch die erklärten den Arbeitskampf für rechtmäßig, sofern ein Notbetrieb garantiert sei. Doch eines wollten sie bislang eher nicht. Die Forderungen der Angestellten erfüllen.

Neuer Inhalt

Bis kommenden Mittwoch soll nun weiterverhandelt werden. Bis dahin, so die vage Hoffnung, könnte der Durchbruch gelingen. Und wenn nicht, werde man weitermachen.

Bei zwei Kernpunkten haben Beschäftigte und Arbeitgeber unterschiedliche Vorstellungen. Zum einen fordert die Gewerkschaft, neben den Pflegenden auch andere Berufsgruppen wie Servicekräfte oder Fahrer von Krankentransporten unter den Entlastungstarifschirm zu bringen. Zum anderen wollen sie einen Freizeitausgleich, der mit einem Punktesystem bemessen werden soll.

Das Modell funktioniert wie folgt: Wenn beispielsweise eine Krankenschwester mal wieder in einer personell unterbesetzten Schicht arbeitet, wird ihr ein Punkt gutgeschrieben. Bei drei Punkten bekommt sie einen freien Tag. Die Arbeitgeber lehnen die Variante ab. Sie bieten pauschal jährlich bis zu sieben freie Tage zusätzlich an. Diese Lösung aber sei nicht akzeptabel, sagt Verdi. „Wir wollen weder mehr Geld noch mehr Urlaub“, erklärt Kinderkrankenschwester Kaiser, „sondern einen Anreiz schaffen, wieder mehr Personal aufzubauen.“

300.000 könnten sich Rückkehr oder Aufstockung vorstellen

Die Hoffnung: Wenn sich die Verhältnisse bessern, werden vielleicht auch wieder die zurückkommen, die den Beruf entnervt aufgegeben oder auf Teilzeit reduziert haben. Die Gewerkschaften beziehen sich dabei auf eine im Mai veröffentlichte und von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie. Basierend auf Umfragen ergibt sich demnach rein rechnerisch ein Potenzial von rund 300.000 Pflegekräften, die sich eine Rückkehr oder Aufstockung auf Vollzeit vorstellen könnten. Bei einer optimistischen Kalkulation liege die Zahl sogar bei 660.000 Vollzeitkräften, heißt es auf der Seite der Stiftung. 

Auch wenn Arbeitgeber und leitende Ärzte sowie Professoren die Hartnäckigkeit der Streikenden mit zunehmendem Argwohn quittieren, die lautstarke Klage der Beschäftigten dürfte sie kaum überrascht haben. In der Pandemie wurden die Pflegenden von den Fenstern und Balkonen der Republik noch als Helden beklatscht, weil sie unermüdlich an den Betten schwerkranker Corona-Patienten wachten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Auch unter dem Eindruck der öffentlichen Solidarität belohnte die Regierung das Engagement schließlich mit einer Corona-Prämie, die allerdings längst nicht alle Pflegekräfte erhielten. Mitarbeitende in kleineren Krankenhäusern etwa gingen leer aus. Schon damals hatte sich abgezeichnet, dass es unter der Decke längst brodelt. Die Zahlungen entpuppten sich als eine allenfalls kurzfristige Beschwichtigung. Die Personalsituation aber hat sich seither nicht verbessert.

Und natürlich schwingt auch bei diesem Arbeitskampf die grundsätzliche Frage mit: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, die bereit ist, in eine angemessene und menschliche Krankenhausversorgung zu investieren? Auf dem Verdi-Kundgebungswagen machen die Rednerinnen deutlich, worum es ihnen auch geht. Um eine Abrechnung mit dem kapitalistischen System, das faulig und krank geworden, auf Ausbeutung von Personal und Patienten abgestellt sei, das rücksichtlos Profitinteressen von Eliten bediene. Im Geiste Rosa Luxemburgs erklärt Verdi-Verhandlungsführerin Katharina Wesenick den Streik zur „revolutionären Tat“.

Alarmbrief schon im Januar

Schon im Januar hatten sich die Gewerkschaften mit einem Alarmbrief an die NRW-Landesregierung gewendet. Die strategische Ausgangslage war günstig. Wenige Monate später standen bevölkerungsreichsten Bundesland Wahlen an und man wollte die Situation nutzen, den Verantwortlichen beim Kampf um Stimmen Zusagen abzutrotzen. Wehende Verdi-Fahnen wurden zu ständigen Begleitern auf den Wahlkampftouren der politisch Mächtigen. Und tatsächlich, es regte sich etwas. Der inzwischen wieder gewählte NRW-Gesundheitsminister Karl Josef Laumann vom sozialen Flügel der CDU hatte auf einer Wahlkampfveranstaltung im April erklärt: „Es ist ganz klar, es wird diesen Tarifvertrag geben.“

Nach Wochen des Schweigens Woche hat Laumann nun angekündigt, dass das Land als Träger der Unikliniken bereit sei, die zusätzlichen Kosten durch einen Entlastungstarifvertrag zu übernehmen. Damit hat er, so sehen es beide Seiten, die Tür zu einer Einigung geöffnet. Nach fast 20 Gesprächsrunden habe es am Mittwoch nun erstmals konstruktive Gespräche gegeben, sagt Verhandlungsführerin Wesenick bei der Kundgebung am Donnerstag. Erstmals nach zehn Wochen, sagt sie, habe man auf Augenhöhe miteinander geredet. „Das ist der eigentliche Skandal.“ 

Bis kommenden Mittwoch soll nun weiterverhandelt werden. Bis dahin, so die vage Hoffnung, könnte der Durchbruch gelingen. Und wenn nicht, werde man weitermachen. Eine Verdi-Verhandlungsteilnehmerin sagt: „Wir werden nicht weichen.“

KStA abonnieren