PR-RückzugWarum Wladimir Putin immer mehr Großauftritte meidet

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Wladimir Putin

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Der russische Präsident Wladimir Putin sagt Großveranstaltungen ab, die sonst zu seinem Standardprogramm gehören. Stattdessen zeigt er sich häufig bei Jubelauftritten.

Es gibt nicht mehr viel, was den Westen und Russland verbindet, doch in einer Einschätzung stimmen beide Seiten unabhängig voneinander überein: 2022 war ein „schwieriges Jahr“, so lautet das Fazit nicht nur bei den EU-Verantwortlichen in Brüssel, die sich mit einer bislang ungekannten Energieknappheit konfrontiert sehen, sondern auch in der russischen Staatsführung, die mit Rekordsanktionen umgehen und militärische Rückschläge in der Ukraine hinnehmen muss.

Dass die Zeiten für Russlands Präsidenten Wladimir Putin mit dem Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine am 24. Februar offensichtlich komplizierter geworden sind, zeigt sich auch daran, dass er seinen Arbeits- und Kommunikationsstil umgestellt hat. Dabei fällt vor allem auf, dass drei öffentliche Großveranstaltungen, die viele Jahre lang als obligatorisch galten, entweder abgesagt oder verschoben wurden.

Die übliche TV-Bürgerfragestunde im Sommer fiel aus, und Anfang dieser Woche teilte Putins Sprecher Dmitrij Peskow mit, dass die Jahrespressekonferenz des Kremls, die traditionell immer im Dezember durchgeführt wurde, dieses Jahr nicht stattfinden werde. Die Rede zur Lage der Nation, mit der sich Putin in den vergangenen Jahren immer im Frühjahr an sein Volk wandte, kam 2022 bislang nicht zustande. Nun heißt es, der Präsident werde die Ansprache am 27. Dezember halten.

Wladimir Putins PR in eigener Sache

Dass Putin derartige Pflichttermine entweder ausfallen lässt oder auf einen Zeitpunkt schiebt, in dem das Land aufgrund der Weihnachtsfeierlichkeiten und des Jahresendes stillsteht, wirft die Frage auf, warum das so ist. Denn eigentlich verstand es der russische Präsident immer vorzüglich, diese Auftritte als PR in eigener Sache zu nutzen.

Ihm kam dabei zugute, dass er über ein phänomenales Zahlengedächtnis verfügt und bei allen angesprochenen politischen Themen bis hin zu Feinheiten immer sehr gut präpariert wirkt. Altkanzlerin Angela Merkel etwa zollte Putin immer Respekt dafür, dass er von derselben Detailversessenheit angetrieben wurde wie sie selbst in ihrer Amtszeit. So ging es in die Annalen der europäischen Verhandlungsdiplomatie ein, als Merkel und Putin im Februar 2015 in einem 17‑stündigen Verhandlungsmarathon im Normandie-Format einen Waffenstillstand im Krieg in der Ostukraine aushandelten, wobei sie buchstäblich jede einzelne Geschützstellung zum Thema gemacht haben sollen.

John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater während der Präsidentschaft Donald Trumps, schreibt in den von ihm 2020 veröffentlichten Erinnerungen „Der Raum, in dem alles geschah“ über seine Zeit im Weißen Haus, dass ihm ganz anders geworden sei, als er Putin in Moskau kennengelernt habe. Denn der russische Präsident sei so gut instruiert gewesen, dass er sich nur schwer habe vorstellen können, wie sein chaotischer Chef mit diesem Mann auf Augenhöhe verhandeln solle.

Wladimir Putin: Ein fleißiger Diener des Volkes

Und Catherine Belton, die in ihrem penibel recherchierten Bestseller „Putins Netz“ von 2020 die berufliche Laufbahn des Kremlchefs von ihren Anfängen an nachzeichnet, zeigt sich in dem Buch beeindruckt von einem Auftritt Putins in seiner Funktion als stellvertretender Bürgermeister Sankt Petersburgs im Jahr 1992. Mit welcher Sattelfestigkeit der damals 39-Jährige dargelegt habe, wie die prekäre Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sichergestellt werden solle, sei imponierend gewesen: „Er spult eine Zahlenkolonne nach der anderen ab“, schreibt sie, „wie viele Tonnen an Getreide als humanitäre Hilfe aus Deutschland, England und Frankreich geliefert werden sollen. … Seine Detailkenntnis ist beeindruckend – ebenso wie sein Gespür für die großen ökonomischen Probleme der Stadt.“

Die Art und Weise, mit der Putin Gesprächspartner und Beobachter wie Merkel, Bolton oder Belton beeindruckte, demonstrierte er bislang nur allzu gerne auch der breiten Öffentlichkeit, wenn er die Rede zur Lage der Nation hielt, oder sich in der TV-Bürgerfragestunde und der Jahrespressekonferenz in mehrstündigen Fernsehübertragungen interviewen ließ. Da präsentierte er sich stets als fleißiger Diener des Volkes, der alles im Griff hat und sich um jedes Problem persönlich kümmert.

Putin ließ bei diesen Gelegenheiten immer gerne durchblicken, wie viel er weiß. Wie hoch etwa die Zahl neuer Kernkraftblöcke ist, dass er über das Problem der vielen Müllhalden, die zu nahe an Wohnsiedlungen liegen, genauestens informiert ist, oder dass er über die darbenden Kultureinrichtungen in Dörfern informiert ist, deren Besteuerung gesenkt werden müsse. Solche Sachverhalte und noch viele mehr garnierte er stets mit einer Kanonade an Fakten und Zahlen, die er mitunter so schnell runterratterte, dass einem allein vom Zuhören schon ganz schwindelig werden konnte.

Warum der russische Präsident auf diese Form der Eigenvermarktung verzichtet, die ja gerade in schwierigen Zeiten gelegen kommen könnte, erklären sich Beobachter mit einer offensichtlich vorliegenden Ratlosigkeit des Kremlchefs bezüglich der Situation, in die er durch eigene Fehleinschätzungen im Krieg gegen die Ukraine geraten ist: „Diese Veranstaltungen dienten Putin dazu“, sagt die Moskauer Politologin Lilia Schewtsowa, „seine Agenda zu legitimieren und die Kontrolle über seinen Machtzirkel aufrechtzuerhalten.

Er gab bei diesen Terminen die Leitlinien vor und stellte die Weichen für die Zukunft. Im Moment sieht es so aus, als hätte der Präsident keine Vision für die nahe Zukunft. Er hat alle möglichen Argumente über die gegenwärtige Realität vorgebracht. Er hat offensichtlich keine Lust, sich zu wiederholen.“ Ähnlich sieht das auch Andrei Kolesnikov von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden: „Putin kann nicht immer die alten Botschaften neu artikulieren, und es ist im Augenblick nicht so ohne Weiteres möglich für ihn, in einen Dialog zu treten. Da bunkert er sich lieber ein.“

Absagen führen zu Spekulationen

Allerdings berge diese Strategie Risiken, verdeutlicht Schewtsowa. Dass die Rede zur Lage der Nation nun doch angesetzt worden sei, illustriere, dass die Staatsmacht diese Gefahr erkannt habe: „Die Absage der Großereignisse provoziert Gerüchte, dass Putin die Kontrolle verlieren könnte und frustriert ist“, erläutert die Politologin. „Der Kreml wird sich entscheiden müssen, was das kleinere Übel ist: die Spekulationen oder die Einhaltung des Rituals. Aber dann müssen sie einen Weg finden, wie sie das Ritual gestalten wollen. Keine leichte Aufgabe.“

Tatsächlich blühten die Spekulationen auf, als Putins Sprecher Peskow die Jahrespressekonferenz Anfang der Woche absagte. Britische Zeitungen nannten Influenzainfektionen, die im Kreml grassieren würden, als Grund für die Absage. Putin habe sich aus Angst vor Ansteckung in der Nähe des Urals in einem Bunker isoliert.

Britische Geheimdienste werteten die Absage hingegen als Anzeichen für die Sorge der russischen Staatsführung über eine Zunahme der Antikriegsstimmung im Land. „Die Offiziellen im Kreml sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sehr besorgt über die Möglichkeit, dass eine von Putin besuchte Veranstaltung für eine unerlaubte Diskussion über die ‚militärische Spezialoperation‘ gekapert werden könnte“, twitterte das britische Verteidigungsministerium.

Den schwierigen Zeiten mit Jubelauftritten begegnen

An den Mutmaßungen mag mitunter etwas dran sein, aber oft genug ist das wohl auch nicht der Fall. Gegen die Annahme, der Präsident verstecke sich im Ural, spricht etwa, dass sich Putin am Dienstag von seinem Amtssitz in Nowo-Ogarjowo nahe Moskau per Videokonferenz zu Eröffnungszeremonien neuer Autobahnabschnitte in verschiedenen Regionen des Landes zuschalten ließ. Am Tag davor hatte er mit Nikol Paschinjan telefoniert, dem Premierminister Armeniens, und sich im Kreml mit Waleri Zorkin getroffen, dem Präsidenten des russischen Verfassungsgerichtes.

Auch wenn der Kremlchef seine großen Propagandaauftritte absagt, ist er ausweislich seines Terminkalenders, den der Kreml ex post auf seiner Website veröffentlicht, beileibe also nicht untätig. Auffällig ist allerdings, dass Putin den schwierigen Zeiten nun besonders häufig mit Jubelauftritten begegnet. Vergangene Woche zeichnete er etwa bei einer Veranstaltung unter dem Hashtag #WeAreTogether die „Freiwilligen des Jahres“ aus. Als Hauptpreisträger wurde Wladimir Taranenko geehrt, Chef des Streifendienstes der sogenannten „Volksrepublik Donezk“. Taranenko bedankte sich beim Präsidenten „dafür, dass wir endlich zu Hause sind“, also für die völkerrechtswidrige Eingliederung größerer Teile des ukrainischen Oblastes Donezk in die Russische Föderation.

Drei Tage später gab es eine Ordensverleihung. Putin ernannte im Kreml zwölf Männer zu „Helden Russlands“, zehn von ihnen hatten als Soldaten in der Ukraine gekämpft. Sie versprachen, alles für den Sieg tun zu wollen. Bei der Veranstaltung kam es zu der Szene, bei der Putin mit dem Sektglas in der Hand in die Kamera sprach und dabei nach Auffassung mancher Beobachter alkoholisiert wirkte. „Das ist das erste Mal, dass mir Putin in irgendeinem Zusammenhang betrunken erschien“, twitterte der schwedische Russland-Kenner Anders Åslund und bewertete diesen Auftritt des Kremlchefs als Zeichen der Schwäche.

„Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass Putin die Zügel entgleiten“

Politologin Schewtsowa sieht das anders: „Ich würde diesem Video nicht viel Aufmerksamkeit schenken und weitreichende Schlussfolgerungen daraus ziehen“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass Putin die Zügel entgleiten.“

Dass der Präsident jetzt viele Orden an Soldaten verleihe, sei nachvollziehbar, denn er müsse die Stimmung in der Armee heben. Für ihn hätten solche Veranstaltungen außerdem den Vorteil, dass er keine Vision für die nahe Zukunft darlegen müsse und er die „Pause“ füllen könne, die durch sein Wegtauchen bei den bisherigen Pflichtterminen entstanden sei: „Putin hat immer noch die Kontrolle über die ‚Pause‘, sagt Schewtsowa. „Er kann sie länger und dramatischer gestalten, oder er könnte entscheiden, dass es Zeit für einen Kompromiss ist. Das Problem ist, dass niemand weiß, welcher Kompromiss alle Seiten zufriedenstellen wird.“

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