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Kommentar

Richterwahl
Union und SPD haben die Mechanismen rechtsradikaler Hetze nicht begriffen

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2 min
Ratlose Gesichter auf der Kabinettsbank: Kanzler Friedrich Merz (CDU, rechts) und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD).

Ratlose Gesichter auf der Kabinettsbank: Kanzler Friedrich Merz (CDU, rechts) und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD).

Die Koalition hat es nicht geschafft, drei Stellen in Karlsruhe zu besetzen. Das hat Folgen: für das Gericht, die Regierung – und die Demokratie.

Es war im November 2023, als der Oppositionsführer Friedrich Merz den Kanzler Olaf Scholz einen „Klempner der Macht“ nannte – nach einem für die Ampelkoalition nachteiligen Urteil des Bundesverfassungsgerichts übrigens. Jetzt hätte die schwarz-rote Koalition Klempner der Macht gut gebrauchen können. Dann wäre sie bei dem Versuch, zwei Richterinnen und einen Richter in das höchste deutsche Gericht zu wählen, nicht so folgenschwer gescheitert.

Gewiss, in anderen Ländern gibt es immer wieder Streit über die Zusammensetzung und die Arbeit der höchsten Gerichte. Das galt zuletzt vor allem für die USA und Polen. In diesen Ländern sind auch Abtreibungen hoch umstritten. In Deutschland ist das eigentlich anders. Weder das Bundesverfassungsgericht noch Abtreibungen sind Spaltungsthemen, im Gegensatz zu Migration oder Klimaschutz. Umso verheerender ist, dass Union und SPD der AfD ausgerechnet hier ein so großes Geschenk gemacht haben.

Die Autorität von Merz ist beschädigt

Zunächst ist das Bundesverfassungsgericht beschädigt. Dessen Ansehen steht und fällt mit seinem Personal und seinen Urteilen. Bisher ist es gelungen, das Gericht durch die Berufung qualifizierter Kandidaten auf der Basis informeller Machtpolitik aus dem Parteienstreit herauszuhalten. Die öffentlichen Angriffe auf die liberale Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf sind ein Bruch mit dieser Tradition. Hinter die Polarisierung gibt es kaum noch ein Zurück.

Beschädigt ist ferner die Autorität des Kanzlers, der es seit seiner Wahl vermochte, die Koalition beisammenzuhalten. Jetzt steht nach zwei Monaten bereits eine schwierige Sommerpause bevor. Schließlich gibt es weitere Konfliktherde wie die Stromsteuer oder die Wehrpflicht. Und die Richterwahl ist ja lediglich aufgeschoben. Mindestens ebenso sehr beschädigt ist der Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn. Es sieht nicht so aus, als habe Spahn den Aufstand gegen Brosius-Gersdorf angezettelt. Aber er hat ihn zu Merz‘ Schaden auch nicht verhindert. Das wird Spuren hinterlassen – in der Union und mehr noch in der Koalition.

CDU und CSU hätten ihre Zweifel an der Jura-Professorin entweder frühzeitig intern artikulieren oder sie am Freitag wählen müssen. Widerspruch in letzter Minute unter dem Einfluss rechtsradikaler Hetze - das geht gar nicht.

Wir leben eben nicht mehr in seligen Helmut-Kohl-Zeiten, als die Demokratie so stabil wirkte wie der Kanzler selbst. Wir leben in Zeiten, in denen die stärkste Oppositionspartei bloß darauf wartet, die Institutionen zu destabilisieren. Dass die gegenwärtige demokratische Regierung das seit langem Offenkundige nicht begriffen hat und in ihrem Handeln berücksichtigt, sondern den Radikalen ihren Triumph im Bundestag vorbeibringt wie Lieferando abends die Pizza nach Hause, ist wirklich nicht zu fassen.