Tödlicher Polizeieinsatz in DortmundKaum Antworten auf drängende Fragen

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Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen.

Düsseldorf – In der Sondersitzung des NRW-Landtags zu den Todessschüssen auf einen 16-jährigen Flüchtling auf dem Innenhof einer Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung vor zwei Wochen hat NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) den Tod des Senegalesen Mouhamed D. zutiefst bedauert.

„Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle den Angehörigen des Verstorbenen meine aufrichtige Anteilnahme auszusprechen.“ Er könne sich vorstellen, so der CDU-Politiker weiter, „dass es die Situation für die Familie nicht einfacher macht, dass ihr Kind, ihr Bruder in einem weit entfernten Land zu Tode gekommen ist und dann auch noch durch den Schuss eines Polizisten.“ An der Stelle versprach der Minister den Angehörigen, dass „Justiz und Polizei alles dafür tun werden, um die Umstände des Todes des jungen Mannes rückhaltlos aufzuklären“.

Staatsanwaltschaft prüfte Reuls Sprechzettel

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erfuhr, war Reuls Sprechzettel durch die zuständige Staatsanwaltschaft Dortmund vor der Sitzung akribisch geprüft worden, um keine neuen Ermittlungsdetails zu veröffentlichen. Die Strafverfolger wollten demnach wohl verhindern, dass durch eine entsprechende Berichterstattung weitere Zeugenvernehmungen womöglich beeinflusst werden könnten.

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Reul schilderte erneut den bislang bekannten Tathergang. Ein Betreuer der Jugendhilfe hatte die Polizei am 8. August alarmiert. Auf dem Innenhof saß demnach Mouhamed D. mit einem Messer. Vieles deute darauf hin, dass er sich mit dem 15 bis 20 Zentimeter langen Messer umbringen wolle.

Bodycams waren nicht eingeschaltet

Daraufhin eilten die Streifenwagen zum Eisatzort. Zunächst versuchte man erfolglos den Jugendlichen auf verschiedenen Sprachen anzusprechen, aber nicht auf Französisch, was der junge Mann wohl verstanden hätte. Dem Versuch folgte eine Attacke mit Reizgas, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Als der Teenager aufsprang und mit gezücktem Messer auf die Beamten zulief, feuerte ein 29-jähriger als Sicherungsschütze eingeteilter Polizeikommissar sechs Mal. Fünf Projektile trafen den jungen Mann im Oberkörper. In der Klinik verstarb Mouhamed D..

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Kerzen erinnern an den 16-jährigen Jugendlichen, der von der Polizei Dortmund getötet wurde.

In der fraglichen Situation waren die Bodycams der Einsatzkräfte nicht eingeschaltet. Der Minister wies auf rechtliche Hürden hinsichtlich der Nutzung der Kameras hin. Ein Suizidversuch, wie er zunächst an jenem Augustnachmittag vermutet wurde, falle unter den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Reul verwies auch auf die seelische Notlage des Jugendlichen.

Reul ließ keine Zweifel aufkommen

Mouhamed D. habe mit sich gehadert, vielleicht habe er Traumatisches während seiner Flucht aus dem Senegal über Mali erlebt. „Sie befinden sich also in diesem Konflikt mit sich selbst, sind emotional aufgewühlt und halten sich das Messer an den Bauch. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen in dieser Situation auch noch mitgeteilt wird, dass Sie gerade gefilmt werden?“

Ohne näher auf die Geschehnisse einzugehen, ließ der Minister keine Zweifel aufkommen, dass die Dortmunder Beamten zunächst von einem Selbstmordversuch ausgingen und deshalb ihre Kameras nicht betätigten. Später dann, so hatte der „Kölner Stadt-Anzeiger“ bereits berichtet, sahen sich die Polizisten nach eigener Darstellung einer drohenden Messerattacke gegenüber und versäumten angesichts der Stresssituation den Startknopf der Bodycams zu drücken.

„Angreifer angriffsunfähig machen“

Unabhängig von dem Fall verteidigte der Innenminister den Einsatz von Maschinenpistolen (MP) in kritischen Situationen. „Die rechtlichen Voraussetzungen sind exakt die gleichen wie für Pistolen.“ Munition und Trefferwirkung seien identisch. Allerdings sei die MP bei mittleren und weiteren Distanzen treffsicherer. Das Abfeuern einer Schusswaffe sei immer die Ultima Ratio, führte Reul aus. Im Einsatzfall „ist das Ziel immer, einen Angreifer angriffsunfähig zu machen. Muss ein Polizist befürchten, dass im nächsten Moment ein Mensch erstochen wird, darf er den Angreifer mit einem Schuss in den Oberkörper oder Kopf stoppen oder auch töten“. Der Einsatz von Dauerfeuer bei Maschinenpistolen sei per Erlass verboten, sagte Reul.

Der Ausgang der Ermittlungen ist nach Informationen unserer Zeitung völlig offen. Reul erklärte, falls es Verfehlungen gegeben habe, müssten diese geahndet werden. „Es gibt kein Handbuch für solche Situationen. Klar ist auch, wenn etwas schief gelaufen ist, müssen die Verantwortlichen den Kopf dafür hinhalten.“

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Auch zwei Wochen nach dem Vorfall bleibt unklar, ob die Abgabe von sechs Schüssen verhältnismäßig war, oder ob der 16-Jährige schon nach dem ersten Treffer kampfunfähig war. Fraglich ist auch, ob das Herbeirufen eines Spezialeinsatzkommandos die Lage hätte entschärfen können.

Sven Wolf, Innenexperte der SPD, verlangte, die Polizei müsse umgehend ein Konzept für den Umgang mit psychisch auffälligen Gefährdern vorlegen. Marc Lürbke, innenpolitischer Sprecher der Liberalen, warnte vor eine Vorverurteilung am Einsatz beteiligter Polizisten. Angesichts des aktuellen öffentlichen Drucks könnten Beamte vielleicht zögern, in einer Notlage zu schießen – und so das eigene Leben oder das seiner Kollegen aufs Spiel setzen.

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