Trauriger RekordWeltweit mehr als 100 Millionen Geflüchtete

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Ukrainische Flüchtlinge gehen nach ihrer Registrierung in der Orangerie der Biosphäre auf einem Weg entlang.

Wegen Krisen und Kriegen gibt es auch in Europa immer mehr Flüchtlinge.

Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Das Flüchtlingswerk der UN hat seinen Report für 2022 veröffentlicht.

Wenn das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) Rekorde meldet, ist das so gut wie nie ein Grund zum Feiern. So ist es auch dieses Jahr anlässlich der Veröffentlichung des Weltflüchtlingsreports „Global Trends in Forced Displacement 2022? am heutigen Mittwoch. Die Zusammenfassung: Noch nie waren so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie im vergangenen Jahr. Und: Die Zahlen steigen seit zehn Jahren kontinuierlich.

108,4 Millionen Menschen wurden 2022 durch Krieg, Verfolgung, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und klimabedingte Unruhen aus ihren Ländern oder innerhalb ihrer Staaten vertrieben, konstatiert die UN-Organisation in ihrem Bericht. Dies sei nicht nur der zehnte Rekordwert in Folge. Es seien damit auch 19,1 Millionen Menschen mehr als 2021 auf der Flucht gewesen – das entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung der Niederlande und stellt den größten Anstieg in der 72-jährigen Geschichte des UNHCR dar.

Diese Entwicklung, das lässt sich bereits heute mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostizieren, wird sich in diesem Jahr fortsetzen. Der Konflikt im Sudan hat in den vergangenen Monaten neue Fluchtbewegungen ausgelöst und die Gesamtzahl der Vertriebenen bis Mai auf schätzungsweise 110 Millionen ansteigen lassen. Das sind fast 1,4 Prozent der gesamten Menschheit.

Krieg in der Ukraine sorgt für riesige Fluchtwelle

Für das vergangene Jahr gilt der russische Angriffskrieg in der Ukraine im weltweiten Maßstab als wesentlicher Treiber der Entwicklung. Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine stieg innerhalb eines Jahres von 27.300 auf 5,7 Millionen Ende 2022. Das, so die UNHCR-Fachleute, ist die schnellste Entwicklung einer Flüchtlingssituation seit dem Zweiten Weltkrieg.

„Diese Zahlen zeigen uns, dass sich manche Personen viel zu schnell in einen Konflikt stürzen und viel zu langsam sind, um Lösungen zu finden. Die Folgen sind Verwüstung, Vertreibung und Leid für jeden einzelnen der Millionen Menschen, die gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben wurden“, sagt der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Filippo Grandi.

Binnenvertreibung steigt sprunghaft

Die meisten Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, überschreiten nie eine internationale Grenze, so UNHCR. Ende 2022 blieben 58 Prozent aller gewaltsam vertriebenen Menschen in ihrem eigenen Land. Die Zahl der neuen Binnenvertreibungen stieg sprunghaft an: 28 Millionen Menschen wurden im Laufe des Jahres aufgrund von Konflikten und Gewalt vertrieben. Durch den Krieg in der Ukraine und die Konflikte in der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien und Myanmar wurden jeweils mehr als eine Million Menschen innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben. Weitere 32,6 Millionen neue Vertreibungen waren auf Katastrophen zurückzuführen.

Doch wo finden Migrantinnen und Migranten Schutz vor Verfolgung und Gewalt in ihrer Heimat, wenn sie Grenzen überschreiten müssen? Die Zahlen des UNHCR weisen aus, dass die meisten Vertriebenen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und nicht in den wohlhabenden Staaten unterschlüpfen konnten. Auf die 46 am wenigsten entwickelten Länder entfallen zwar nicht einmal 1,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, dennoch haben sie mehr als 20 Prozent aller Geflüchteten aufgenommen.

Türkei nimmt die meisten Flüchtlinge auf

Auch im vergangenen Jahr beherbergte die Türkei mit 3,6 Millionen Menschen die meisten Geflüchteten weltweit. Es folgen der Iran mit 3,4 Millionen und Kolumbien mit 2,5 Millionen. An vierter Stelle steht Deutschland mit 2,1 Millionen aufgenommenen Geflüchteten, danach kommt Pakistan mit 1,7 Millionen.

Auch die Zahl neuer Asylanträge wuchs 2022 in 155 Ländern auf das Rekordniveau von 2,6 Millionen – gestellt von Menschen mit 140 Nationalitäten. Mehr als zwei von fünf der neuen Asylanträge wurden von Menschen aus Lateinamerika und der Karibik gestellt, insbesondere von Staatsangehörigen Kubas, Nicaraguas und Venezuelas. Auch die Asylanträge von Menschen aus Afghanistan und Syrien nahmen im Vergleich zum Vorjahr zu, heißt es im UN-Bericht. Die USA blieben der größte Empfänger von Asylanträgen. Sie erhielten mit 730.400 neuen Anträgen fast viermal mehr als im Jahr 2021.

40 Prozent der Vertriebenen sind Kinder

52 Prozent aller Geflüchteter und anderen Personen, die internationalen Schutz benötigen, kamen aus nur drei Ländern: Syrien (6,5 Millionen), Ukraine (5,7 Millionen) und Afghanistan (5,7 Millionen). 40 Prozent aller gewaltsam Vertriebenen sind Kinder – die jedoch nur 30 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.

Die Vereinten Nationen versuchen mittels des Flüchtlingshilfswerks und zusammen mit vielen Hilfsorganisationen, weltweit die Not der Geflüchteten abzumildern. Doch die Schwierigkeit, Geldgeber zu finden, steigt mit den Flüchtlingszahlen. Die Unterstützung der Aufnahmeländer blieb im vergangenen Jahr weit hinter dem Notwendigen zurück, so das UNHCR. Deutschland nimmt hier übrigens – jedoch mit deutlichem Abstand zu den USA – eine Vorbildrolle ein. Die Bundesrepublik ist mit 537 Millionen Dollar Hilfsgeldern im letzten Jahr zweitgrößter Geldgeber des UNHCR.

„Es ist sehr bedrückend, dass die Zahl der weltweit gewaltsam Vertriebenen auch 2022 erneut einen Höchststand erreicht hat“, sagte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan (SPD), dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Dies zeige, dass mehr denn je die Achtung der flüchtlingspolitischen Verpflichtungen, politische Kraft und Menschlichkeit gegenüber denen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, nötig seien. „Europa und Deutschland werden sich auch künftig ihrer flüchtlingspolitischen Verantwortung nicht entziehen.“

Amnesty kritisiert EU-Flüchtlingspolitik

Alabali-Radovan verteidigte in diesem Zusammenhang die migrationspolitischen Beschlüsse der europäischen Justiz- und Innenminister aus der vergangenen Woche. „Die Entscheidung zeigt, wie wichtig es ist, dass wir uns mit aller Kraft einbringen und für Menschenrechte einsetzen“, so die Staatsministerin. „Legale, sichere Zugangswege wie Resettlement und die Familienzusammenführung sind ein wichtiger Bestandteil dieser humanitären Verantwortung und müssen weiter ausgebaut werden“, forderte Alabali-Radovan.

Der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Markus N. Beeko, widerspricht in Teilen. „Die Hauptaufnahmeländer von Schutzsuchenden sind wirtschaftlich schwächere Länder. Sie übernehmen damit weitgehend die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft.“ Die EU nehme hingegen nur einen Bruchteil der Schutzsuchenden weltweit auf. „Statt endlich international Verantwortung zu übernehmen, will die EU nun anderen Ländern mit dem EU-Ratsbeschluss letzter Woche noch mehr Verantwortung aufdrücken“, so Beeko. „Es ist dringend an der Zeit, eine solidarische Verantwortungsteilung zu finden: innerhalb der EU – aber vor allen Dingen im Verhältnis zum Rest der Welt.“

Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimat

„Menschen auf der ganzen Welt zeigen weiterhin eine außergewöhnliche Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen, indem sie ihnen Schutz und Hilfe gewähren“, so UN-Flüchtlingskommissar Grandi. „Aber wir brauchen viel mehr internationale Unterstützung und eine gerechtere Aufteilung der Verantwortung, gerade mit den Ländern, die die meisten Vertriebenen aufnehmen. Vor allem muss viel mehr getan werden, um Konflikte zu beenden und Hindernisse zu beseitigen, damit Flüchtlinge die Möglichkeit haben, freiwillig, sicher und in Würde nach Hause zurückzukehren.“

Ja, auch das ist möglich – wenngleich in kleinem Maßstab. Im Jahr 2022 kehrten mehr als 339.000 Flüchtlinge in 38 Länder heim, heißt es im Report. Das waren zwar weniger als im Vorjahr, es gab aber bedeutende freiwillige Rückkehrbewegungen in den Südsudan, nach Syrien, Kamerun und in die Elfenbeinküste. Gleichzeitig kehrten im vergangenen Jahr 5,7 Millionen Binnenvertriebene zurück in ihre Heimat, vor allem in Äthiopien, Myanmar, Syrien, Mosambik und der Demokratischen Republik Kongo. (rnd)

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