Kommentar zur UkrainePutin setzt im Krieg auf die Masse und Zermürbung

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Der russische Präsident Wladimir Putin (Archivbild)

Der russische Präsident Wladimir Putin (Archivbild)

Die Ukraine braucht jetzt vor allem Liefersicherheit bei Munition – keine großen neuen Strategiedebatten.

In den Nächten nach dem Jahreswechsel nahm Russland die Ukraine unter Beschuss wie selten zuvor. Russische Raketen und Drohnen diverser Typen flogen gleichzeitig westwärts, die ukrainischen Flugabwehrstellungen feuerten und knatterten an ihren Belastungsgrenzen.

Anfangs verkündete Kiew eine stolze Bilanz: Man habe fast alles vom Himmel geholt. Doch die Attacken gingen in den folgenden Nächten weiter. Und so musste der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Oberst Jurij Ihnat, zu Beginn dieser Woche zerknirscht vor die Presse treten und eine Bilanz ganz anderer Art ziehen: Es fehle mittlerweile an Flugabwehrraketen, man habe inzwischen die Vorräte strikt rationieren müssen.

Putins Kriegskonzept lautete Masse statt Klasse

Für den Kriegsherrn Wladimir Putin ist das zum Kichern. Das Beispiel zeigt, wie er den Krieg, in dem Russland über lange Strecken militärisch oft nicht gut aussah, am Ende doch noch gewinnen könnte: mit Masse statt Klasse. Die Ukraine verfügt zwar inzwischen, vor allem rund um Kiew und einige andere Großstädte, über hoch effektive Flugabwehr. Doch die besten westlichen Systeme, ob Patriot oder Iris-T, nützen nichts, wenn man die damit maschinell gestarteten Lenkwaffen nicht nachladen kann.

Putin zeigt jetzt, dass er das kleine Einmaleins der Kriegsführung beherrscht. Er weiß, dass man aus einer anfangs nur zahlenmäßigen Überlegenheit mit Geduld und Beharrlichkeit früher oder später auch eine militärische Überlegenheit machen kann. Für Moskau ist das übrigens historisch gesehen alles andere als ein neuer Ansatz.

Wie soll die Nato auf Putins Stumpf-ist-Trumpf-Taktik reagieren? Die Frage dominierte am Mittwoch auch die Debatten im neu geschaffenen Nato-Ukraine-Rat. Das Bündnis muss manche Dinge neu gewichten. Die Ukraine braucht jetzt vor allem Liefersicherheit bei Munition – keine großen neuen Strategiedebatten. Auch die deutsche Diskussion über den Taurus ist, so sehr sich Kiew diesen Marschflugkörper wünscht, militärisch vorläufig sekundär. Als drängendes Problem entpuppt sich dagegen mit Blick auf schon gelieferte Panzer und Geschütze die schlichte Fragen der Instandsetzung: Im Augenblick sind Reparatureinrichtungen allzu weit von der Front entfernt.

Noch ist die Ukraine nicht verloren

Noch ist die Ukraine nicht verloren. Auch Kiew hat das kleine Einmaleins der Kriegsführung im Blick. Die ukrainische Armee hat beispielsweise dafür gesorgt, dass Putin seine geringen Geländegewinne im Osten der Ukraine nur mit unfassbar großen Opfern an russischen Soldaten erkaufen konnte. Zudem gelangen der Ukraine Schläge auf wichtige Ziele weit hinter der Front, etwa auf der Krim. Mal wurden dort russische Schiffe getroffen, mal Kommandozentralen. Zu den guten Nachrichten aus der Ukraine gehört auch, dass die Algorithmen der westlichen Flugabwehrsysteme dazulernen und mit beeindruckend wachsender Verlässlichkeit die von Putin einst als „unaufhaltsam“ vorgestellte russische Überschallrakete Kinshal vernichten.

Doch der Westen muss einsehen, dass es nicht um Sprints geht, sondern um einen Langstreckenlauf. Deshalb steigt das Risiko einer Niederlage der Nato mit jeder Woche, in der Russland etwa bei Artilleriegeschossen ein Vielfaches dessen produzieren lässt, was der Westen zu Stande bringt. Die Hilferufe von drüben, aus der Hauptstadt des EU-Beitrittskandidaten Ukraine, werden also weiter gehen.

Präsident Wolodymyr Selenskyi geht jetzt auch wieder persönlich auf Tour. Dieser Tage ist er im Baltikum, am Wochenende wird man ihn beim Weltwirtschaftsforum in Davos erleben. Auch er, der anfangs auf schnelle Erfolge bei der ukrainischen Gegenoffensive hoffte, hat inzwischen die Sache mit dem Langstreckenlauf verstanden.

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