Flucht im KugelhagelEx-Wagner-Kommandant flüchtet nach Norwegen – und will jetzt auspacken

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Ein Soldat geht in einer unterirdischen Kommandozentrale. (Symbolbild)

Ein Soldat geht in einer unterirdischen Kommandozentrale. (Symbolbild)

Dem desertierten Wagner-Söldner Andrej Medwedew ist offenbar eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. In Norwegen will er jetzt gegen „Putins Koch“‚ den Wagner-Chef Prigoschin, auspacken.

Was sich vor wenigen Tagen an der norwegischen Grenze abgespielt hat, bietet Stoff für einen ganzen Kinofilm. Im Norden des Landes, unweit der Grenze zu Russland, hat eine Grenzpatrouille der norwegischen Streitkräfte am Freitag einen Mann festgenommen. Im Schutz der Dunkelheit war er bei Eiseskälte bis nach Norwegen geflohen, wo er Anwohner bat, die Polizei zu rufen.

Dann die Überraschung: Der Mann und sein norwegischer Anwalt behaupten, dass er Andrej Medwedew sei – ein Kommandant der berüchtigten russischen Wagner-Söldner, seit Monaten in Russland auf der Flucht. Er wolle jetzt politisches Asyl in Norwegen beantragen – und gegen Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin („Putins Koch“) aussagen. Er habe Informationen, mit denen er Kriegsverbrechen belegen könne.

Menschenrechtsorganisation berichtet aus Gespräch mit Medwedew

Nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation Gulagu sei Medwedew schon Anfang Dezember an sie herangetreten, habe um Hilfe gebeten und von seiner Situation berichtet. Demnach soll er am 6. Juli einen Viermonatsvertrag für den Kampfeinsatz in der Ukraine bei der Wagner-Einheit unterschrieben haben. „In diesen Monaten erlebte Medwedew zahlreiche Hinrichtungen und Strafmaßnahmen durch die Sicherheitskräfte von Jewgeni Prigoschin gegen sogenannte Verweigerer“, so die Organisation. Als „Verweigerer“ wurden diejenigen bezeichnet, die nicht gegen die Ukrainer kämpfen oder die Söldner-Organisation verlassen wollten. „Die Russen haben sie unter Androhung von Erschießungen zum Kampf gegen die Ukraine gezwungen“, berichtet die Menschenrechtsorganisation aus den Gesprächen mit Medwedew, die sie als Video veröffentlicht hat.

Als nach vier Monaten der Vertrag von Medwedew auslief, habe er versucht zu flüchten und unterzutauchen. Prigoschins Söldner, aber auch Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB, sollen ihn verfolgt haben. In Murmansk habe er Hilfe erhalten und sei bis zur russischen Grenzstadt Nikel im Nordwesten des Landes gelangt. Nur mit einem weißen Bademantel sei er dann über den Stacheldrahtzaun geklettert, schildert er im Video, und so nach Norwegen geflüchtet.

Medwedew berichtet von Flucht im Kugelhagel

Medwedew behauptete, man habe versucht, ihn zu erschießen. Er berichtete von Scheinwerfern, Hunden und Schüssen. „Ich rannte den Wald entlang, hörte zwei Schüsse, die Kugeln flogen an mir vorbei. Ich habe das Telefon zerbrochen, es im Wald weggeworfen und rannte dann in Richtung der Lichter der Häuser.“ Die Angaben ließen sich bisher nicht überprüfen. Allerdings haben Anwohner norwegischen Medien gesagt, dass an der Grenze zu Russland in der Nacht etwas passiert sein musste. Sie sprachen von Suchscheinwerfern, Schneemobilen und jeder Menge Personen.

Medwedes Anwalt Brynjulf Risnes bestätigte der norwegischen Zeitung „Verdens Gang“ und dem norwegischen Rundfunk, dass Medwedew nun einen Asylantrag gestellt hat. „Er erkannte sehr früh, dass er unter falschen Annahmen den Vertrag unterschrieben hatte und dass im Krieg Dinge vor sich gingen, die er nicht mittragen konnte“, erklärte Risnes. „Er wollte Schluss machen aber begriff, dass dies eigentlich unmöglich war. Er sah also keine andere Möglichkeit als zu fliehen.“ Zunächst hieß es, der Ex-Söldner befinde sich nun in Oslo in einem Zentrum für straffällige Migranten. Allerdings gibt es laut NRK dort gar kein Asylzentrum, das in Betrieb sei. Der genaue Aufenthaltsort ist nicht bekannt.

Die Menschenrechtsorganisation Gulagu hat eine Reihe von Video-Interview mit Medwedew geführt. In einem Videoclip, der nach seiner Ankunft in Norwegen veröffentlicht wurde, kündigte der Ex-Söldner an, über die Wagner-Privatarmee und ihren Anführer auszupacken. „Ich bin bereit, gegen die Wagner-Gruppe und Prigozhin auszusagen. Natürlich bin ich das“, so Medwedew. Sein Anwalt ließ verlauten, seinem Mandanten sei klar, dass nun auch gegen ihn ermittelt werde. Sein Mandanten sei aber überzeugt, dass er nur Befehle ausgeführt habe und keinen Kontakt mit Zivilisten hatte.

Wagner-Söldner: Großteil der Truppe rekrutierte Häftlinge?

Dem kremlkritischen Portal „The Insider“ sagte Medwedew zuvor, dass seine Einheit den Spitznamen „Selbstmordkommando“ getragen habe. Der Großteil der Söldner seien rekrutierte Häftlinge gewesen, denen man Straffreiheit versprochen hatte, wenn sie mehrere Monate kämpfen. „Nach wenigen Tagen waren nur noch drei von dreißig Männern aus meinem Trupp am Leben.“ Jede Woche hätte man neue Kräfte herangeschafft, abhängig von der Zahl der Toten.

Experten zufolge ist der Fall Medwedew einzigartig: Der Ex-Söldner war bereits früh durch kritische Äußerungen gegen die Wagner-Gruppe aufgefallen, hatte aber als Kommandant trotzdem eine Führungsrolle innerhalb inne. „In verantwortungsvoller Position bekommt man ein ganz anderes Wissen über die Funktionsweise der Gruppe. Ich würde sagen, dass er wahrscheinlich ein wertvoller Zeuge ist“, erklärte die Wagner-Expertin Karen Philippa Larsen vom Danish Institute for International Studies der Zeitung „Verdens Gang“.

Medwedews Anwalt sagte, sein Mandant habe Informationen, die zur Dokumentation von Kriegsverbrechen in der Ukraine hilfreich sein könnten. An ihnen dürften seiner Einschätzung nach die Behörden in Norwegen und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ein Interesse haben. Um welche Informationen es sich handelt, ließ er offen. Allerdings hatte Medwedew zuvor schon bei „The Insider“ erklärt, er besitze ein Video das zeige, wie zwei Soldaten in Luhansk hingerichtet werden, weil sie nicht im Krieg kämpfen wollten.

Heute fürchtet Medwedew um sein Leben. Denn wer die Wagner-Organisation verlassen will, tut dies in den meisten Fällen nicht lebend. Er habe Massenmorde an Menschen gesehen, die sich weigerten zu kämpfen oder Befehlen nicht Folge geleistet haben, berichtet Medwedew. Im November wurde der russische Wagner-Deserteur Jewgenij Nuschin mit einem Vorschlaghammer kaltblütig hingerichtet. Ein Exempel, dass die Wagner-Gruppe statuiert hat. Nuschin habe zu seiner Einheit gehört, sagt Medwedew. Nun fürchtet er, dass auch ihm der Tod droht.

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