Eingefroren bis nach dem KriegWie eine Samenbank zur „Versicherung“ für Soldaten im Krieg wird

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Der Gynäkologe Witali Radko posiert vor „seinen Kindern“. Er hat mehr als 1000 Paaren geholfen, ein Kind zu bekommen.

Der Gynäkologe Witali Radko posiert vor „seinen Kindern“. Er hat mehr als 1000 Paaren geholfen, ein Kind zu bekommen.

Eine Samenbank wird für die Ukrainer zur Überlebensversicherung. Soldaten können ihre Spermien kostenlos einfrieren lassen. Falls ein Mann nach einer Verwundung zeugungsunfähig oder tot ist, soll seine Frau noch sein Kind bekommen können.

Sollte Tetianas Ehemann Dmitro im Kampf gegen die russischen Besatzer in der Ostukraine sterben, steht sie vor einer schwierigen Entscheidung: Soll sie mithilfe seines eingefrorenen Samens sein Kind zur Welt bringen? Gezeugt und geboren nach seinem Tod?

Die „Mutter und Kind“-Kliniken, eine private Kette von Kliniken für Reproduktionsmedizin in der Ukraine, hat ein Programm aufgelegt, an dem Tetiana und Dmitro teilnehmen. „Nation der Helden“ heißt es. Seit dem Start vor drei Monaten haben nach Angaben von Chefarzt Witali Radko bereits mehr als 2000 Soldaten ihre Samen abgegeben. Die „Mutter und Kind“-Kliniken untersuchen die Spermien, frieren sie ein und bewahren sie bis Kriegsende auf – kostenlos. Sollte der Vater getötet oder so schwer verwundet werden, dass er zeugungsunfähig wird, kann die Mutter dennoch sein Kind bekommen.

Soldatinnen können ihre Eizellen einfrieren lassen, nicht gratis, aber nach Radkos Angaben zum Selbstkostenpreis der Kliniken. Davon hätten allerdings bislang nur wenige Frauen Gebrauch gemacht.

Mit dem „Nation der Helden“-Projekt, sagt der 37-jährige Gynäkologe, „wollen wir unseren Beitrag zum Krieg leisten. Ich bin kein Soldat und kann nicht schießen. Aber ich kann Familien dabei helfen, junge, gesunde Ukrainer zur Welt zu bringen.“

Liberale Gesetzgebung in der Ukraine

Nach eigenen Angaben hat Radko selbst in seiner zwölfjährigen Karriere mehr als 1000 Kindern durch In-Vitro-Fertilisation (IVF), also künstliche Befruchtung, zum Leben verholfen. In seiner Kiewer Praxis zieren etliche Fotos von Säuglingen die Wand hinter seinem Schreibtisch, dazwischen sind Postkarten von Eltern, die ihm danken.

Nach eigenen Angaben hat Radko selbst in seiner zwölfjährigen Karriere mehr als 1000 Kindern durch In-Vitro-Fertilisation (IVF), also künstliche Befruchtung, zum Leben verholfen. In seiner Kiewer Praxis zieren etliche Fotos von Säuglingen die Wand hinter seinem Schreibtisch, dazwischen sind Postkarten von Eltern, die ihm danken.

Witali Radko in der Spermienbank in seiner Klinik in Kiew.

Witali Radko in der Spermienbank in seiner Klinik in Kiew.

Die sechs „Mutter und Kind“-Kliniken gelten als größter Anbieter für Reproduktionsmedizin im Land. Künstliche Befruchtung ist in der Ukraine günstiger als in vielen anderen Ländern, die Gesetze sind zudem laxer. So können Paare beispielsweise wählen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen wollen – in Deutschland ist das nicht erlaubt. Auch Leihmütter sind in der Ukraine legal. Radko sagt, vor dem Krieg seien 30 Prozent seiner Patienten und Patientinnen aus dem Ausland gekommen. Heute seien es immerhin noch 5 Prozent – obwohl es keine Passagierflüge mehr in das Land gibt.

Das IVF-Verfahren ist normalerweise für Paare gedacht, deren Kinderwunsch auf natürlichem Wege unerfüllt bleibt. Der Frau werden nach einer Hormonbehandlung Eizellen entnommen, die im Reagenzglas mit Spermien befruchtet werden. Nach einigen Tagen im Labor wird der Embryo in die Gebärmutter übertragen oder eingefroren.

„Ich denke, dass der größte Teil der eingefrorenen Samen der Soldaten nie für ein IVF-Verfahren verwendet wird“, sagt Radko. „Es ist eine Art Fortpflanzungsversicherung.“

Eine schwierige ­Entscheidung

Man hoffe, dass die Frauen stattdessen auf natürlichem Wege schwanger würden – nämlich dann, wenn ihre Ehemänner den Krieg unbeschadet überstehen. Soldatenfamilien mit Kinderwunsch wolle man mit dem Projekt aber zumindest eine Sorge nehmen. „Die Gefahr einer Verletzung von Fortpflanzungsorganen im Krieg ist hoch“, sagt der Arzt. Splitterschutzwesten enden normalerweise über dem Hosenbund.

Die Spermien werden in den Kliniken in speziellen Tiefkühlbehältern aufbewahrt. Das Projekt ist auf die Dauer des Krieges angelegt – wie lange der noch wütet, weiß aber niemand. Radko hofft, „dass der Krieg in diesem Jahr zu Ende geht“. Eine zeitliche Begrenzung für das Projekt gebe es nicht. „Unsere Kapazität zur Aufbewahrung würde für 100 Jahre Krieg reichen. Aber wir hoffen natürlich, dass dieses negative Szenario niemals Wirklichkeit wird.“

Die 43-jährige Tetiana in der Nähe ihres Hauses in Kiew

Die 43-jährige Tetiana in der Nähe ihres Hauses in Kiew

Bürokratie macht vor Krieg nicht halt, das gilt auch in diesem Fall. Die Verwendung der Spermien muss vorab schriftlich genehmigt werden, wie Radko sagt. Soldaten könnten ihren Ehefrauen zwei Vollmachten geben: eine, dass die Frau die Samen auch in Abwesenheit des Mannes nutzen kann, weil er zum Beispiel an der Front ist. Eine zweite, dass die Frau die Spermien auch dann noch verwenden kann, wenn der Mann gestorben ist. „Das ist emotional sehr schwierig. Manche Männer wollen die zweite Vollmacht zur Verwendung nach dem Tod nicht unterzeichnen, weil sie darüber nicht nachdenken wollen.“

In mehr als 20 Fällen seien die Samen nach schweren Verletzungen der Soldaten bereits zur künstlichen Befruchtung von Eizellen der Ehefrauen eingesetzt worden, sagt Radko. In zwei Fällen hätten sich Frauen dazu entschieden, ein Kind ihres Ehemannes zu bekommen, nachdem dieser getötet worden war. Eine dieser beiden Frauen sei jetzt nach einer erfolgreichen Implantation des Embryos schwanger.

„Sie trägt das Kind des Mannes in sich, der jetzt tot ist“, sagt der Arzt. „Das ist psychologisch eine sehr schwierige Situation.“ Nicht alle Frauen seien bereit dazu, diese Last auf sich zu nehmen. „Viele wollen einen Partner, einen Vater für ihr Kind.“ Wenn die Frauen sich nach dem Tod des Ehemannes gegen eine Schwangerschaft entschieden, würden die Spermien zerstört.

Radko war im Studium zwei Monate lang an einer Frauenklinik in Duisburg, er spricht Deutsch. Der Arzt hat zwei Kinder. Seine Tochter wurde 2014 geboren, als Russland völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektierte. Für die Ukrainer hat der Krieg damals begonnen, nicht erst mit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar 2022.

Radko hat außerdem einen drei Monate alten Sohn. Drei Tage nach der russischen Invasion sei der Schwangerschaftstest seiner Frau positiv ausgefallen, sagt er. Damals sei die Familie aus Kiew auf der Flucht vor den vorrückenden russischen Truppen gewesen. „Ich habe zwei Kriegskinder“, sagt der Mediziner. „Meine Kollegen haben mich gebeten, die Planung eines dritten Kindes rechtzeitig bekannt zu geben.“ Dann könnten die Zeichen wieder auf Krieg stehen, flachsen sie mit leicht makabrem Humor.

Mediziner überrascht von Zuspruch

Nach dem Einmarsch der Russen war Radkos Klinik zwei Monate lang geschlossen. Als die Besatzer aus der Region um die Hauptstadt Kiew vertrieben worden seien, habe man wieder geöffnet – aber mit einiger Skepsis. „Wir haben uns gefragt, wollen die Menschen während des Krieges wirklich Kinder bekommen?“, erinnert er sich. In Zeiten der Not gehe es doch um ganz andere Sachen, etwa darum, Wasser und Essen zum Überleben zu organisieren.

Für den Durchschnittsverdiener in der Ukraine sei eine IVF-Behandlung, deren Preis sich auf 2000 bis 2500 Euro belaufe, ohnehin kaum bezahlbar. „Wir waren überrascht, dass die Menschen trotzdem gekommen sind“, sagt Radko und spricht von einem „kleinen Wunder“. Die Kinderwunschkliniken arbeiteten derzeit auf 80 Prozent des Vorkriegsniveaus, sagt er – obwohl viele internationale Patientinnen ausgeblieben und zahlreiche Landsleute ins Ausland geflohen seien. Seine Erkenntnis: „Den Menschen ist es im Krieg sehr wichtig, Kinder zu haben.“

Das gilt auch für Tetiana und Dmitro, 43 und 45 Jahre alt. Beide haben Kinder aus früheren Ehen. Als Dmitro im vergangenen Juni bei Gefechten in der Ostukraine verwundet wurde, hätten sie beschlossen, dass sie noch ein gemeinsames Kind wollten, sagt Tetiana. Bislang habe das auf natürlichem Wege nicht funktioniert. Tetiana sagt, Dmitro habe beide Vollmachten unterschrieben – auch die, dass sie seinen Samen im Falle seines Todes nutzen könne. „Ich glaube zu 80 Prozent, dass ich den Wunsch meines Mannes nach einem Kind erfüllen würde, wenn er sterben sollte“, sagt sie. „Aber es ist eine sehr schwierige Frage. Ich weiß nicht, ob ich allein damit zurechtkommen würde.“

Der Name ist schon ausgesucht

Tetiana und Dmitro kennen sich schon lange. „Wir haben uns verliebt, als ich 18 und er 19 war“, sagt sie, auf einer Party in einer Datscha außerhalb von Kiew. Damals seien sie zu jung gewesen, um eine Familie zu gründen. Die Beziehung sei in die Brüche gegangen. Beide hätten später andere Partner geheiratet, beide Ehen seien gescheitert. Irgendwann hätten sie sich zufällig im Zentrum von Kiew wiedergetroffen. Liebe auf den zweiten Blick also? Tetiana lacht. So könne man das wohl sagen, meint sie.

Frauen, die an dem „Nation der Helden“-Projekt teilnehmen, wollen meist gar nicht über dieses sehr persönliche Thema reden. Tetiana tut es, möchte ihren Nachnamen und ihr Gesicht aber nicht öffentlich machen. Ihre Eltern seien konservativ, sagt sie, und hielten sie für zu alt, um noch ein Kind zu bekommen. „Es wird eine Überraschung für sie.“ Nur ihre zehnjährige Tochter wisse von den Nachwuchsplänen, sie habe schon die Namen für das Geschwisterchen gewählt: Solomia, falls es ein Mädchen werden sollte – und Maxim für einen Jungen.

Mitarbeit: Yurii Shyvala

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