US-PräsidentschaftTrotz altersbedingter Aussetzer und Fahrigkeit – Biden wird wohl erneut antreten

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US-Präsident Joe Biden auf dem Campus der Georgetown Universiät in Washington.

US-Präsident Joe Biden auf dem Campus der Georgetown Universiät in Washington.

Alles deutet darauf hin, dass Joe Biden bald seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit bekannt geben wird. Sein Leibarzt hat grünes Licht gegeben. Viele Wähler sehen das anders.   

Der Mann hat in seinem Leben mehr erreicht, als er erwarten durfte. Eigentlich könnte er nun bei schönem Wetter mit seiner Frau die Fahrräder aus der Garage des hübschen blauen Strandhauses in Rehoboth Beach holen und durch den Cape Henlopen Park radeln. Oder seine sieben Enkel besuchen. Mit den Schäferhunden Major und Commander im Garten seines stattlichen Anwesens in Wilmington spielen.

Dienstag spricht Biden zum Jahrestag des russischen Überfalls in Polen

Stattdessen sitzt Joe Biden jeden Morgen am Schreibtisch des Oval Office und lässt sich über die Weltlage informieren, wenn er nicht längst im Land auf Achse ist oder - wie an diesem Dienstag in Warschau zum Jahrestag des russischen Ukraine-Überfalls - irgendwo weit weg jenseits des Atlantiks eine Rede hält. Im November ist er 80 Jahre alt geworden. Doch der amerikanische Präsident wirkt kämpferischer denn je. „Wir sind noch nicht fertig“, rief er vor zwei Wochen bei der „State of the Union“ den versammelten Abgeordneten und Senatoren im Kongress zu, breitete ein ambitioniertes Regierungsprogramm aus und drängte die Parlamentarier: „Lasst uns den Job zu Ende bringen!“

Der „Job“, das machte Biden deutlich, ist für ihn viel mehr als der Höhepunkt einer langen Karriere. In seinen Augen geht es heute um nicht weniger als die Rettung der amerikanischen Demokratie: „Jede Generation von Amerikanern hat Momente erlebt, in denen sie ihre Demokratieschützen und verteidigen muss“, mahnt er: „Nun sind wir an der Reihe.“

Beobachter sind sicher: Biden tritt nochmal an

So redet niemand, der ans Aufhören denkt. Und tatsächlich sind sich die meisten  Beobachter in Washington einig: Biden strebt ab 2024 eine zweite Amtszeit an. „Man muss keinen Wahrsager fragen und auf der Stuhlkante zittern“, schreibt die Kolumnistin Maureen Dowd in der „New York Times“: „Joe Biden tritt wieder an!“ Die lakonische Feststellung ist bemerkenswert - immerhin hatten Dowd und mehrere ihrer Kolleginnen und Kollegen auf denselben Kommentarseiten in den vergangenen Wochen leidenschaftlich gefordert, dass der Präsident in zwei Jahren abtreten solle.

Biden selbst schweigt bislang zu seinen Ambitionen. Eigentlich wollte er sich um den Jahreswechsel erklären. Doch dann kochte die Affäre um seine verschlampten geheimen Regierungsdokumente hoch. Offenbar wollen seine Berater erst einmal etwas Gras über die Sache wachsen lassen. Nun ist von März oder April die Rede.

Biden erlaubte sich einen kleinen politischen Siegestanz

Doch bei einem kleinen Parteitag der Demokraten in Philadelphia Anfang dieses Monats gab es schon einmal einen Vorgeschmack. „Hallo, Demokraten!“, rief der Präsident da zur Begrüßung in den Ballsaal des Sheraton-Hotels. „Four more years! Four more years“ (Vier weitere Jahre!), schallte es zurück. Nach den unerwarteten Erfolgen seiner Partei bei den Zwischenwahlen erlaubte sich der Redner einen kleinen politischen Siegestanz. Stolz zählte er seine Erfolge vom Infrastrukturgesetz über die niedrigen Arbeitslosenzahlen bis zur angestrebten Senkung der Arzneikosten auf, um hinzuzusetzen: „Aber wir müssen noch viel mehr tun!“ „Four more years! Four more years!“, tobte der Saal.

„Ich höre aus guten Gründen keinerlei Spekulationen über irgendjemand, der in unserer Partei gegen ihn antreten will“, sagte Phil Murphy, der Gouverneur von New Jersey, nach dem Auftritt zu Journalisten: „Was ich hier sehe, ist ein Kerl, der immer noch in Bestform ist.“ Ziemlich einsam drehte derweil draußen auf der Straße ein Laster mit einer Leuchttafel seine Runden. Er war von einigen Parteilinken gemietet worden. „Trete nicht an, Joe!“, stand darauf.

Magere Zustimmungswerte für den Präsidenten

Die demonstrative Unterstützung der Demokraten für Biden kontrastiert nicht nur auffällig mit höchst kritischen Äußerungen aus der Partei zu dessen Person noch vor wenigen Wochen. Sie widerspricht auch dem öffentlichen Stimmungsbild, wie es sich derzeit in Umfragen zeigt. Dort kommt der Präsident auf magere Zustimmungswerte um 42 Prozent.

Von den Vorgängern wurde zur Halbzeit nur Donald Trump schlechter beurteilt. Befragt man alleine die Wähler der Demokraten, erklären zwar 77 Prozent, dass Biden viel erreicht habe. Doch für die Zukunft wünschen sich 58 Prozent einen anderen Kandidaten.

Eigentlich ist dies ein klares Meinungsbild. Dass trotzdem alles auf eine erneute Kandidatur von Biden und damit vieles auf eine Wiederholung des Duells mit Donald Trump von 2020  hindeutet, führt David Graham vom Magazin „The Atlantic“ in einem klugen Aufsatz auf ein Paradoxon zurück: „Biden wird solange antreten, wie er keine plausible Alternative sieht. Aber solange er antritt, kann unmöglich eine Alternative entstehen.“ In Abwandlung des englischen Begriffs „Catch-22“, der eine Zwickmühle beschreibt, spricht Graham von der „Catch-24“-Situation der US-Demokraten.

Das Land versöhnen, Arbeiter zurückgewinnen, die Demokratie verteidigen

Tatsächlich scheint Biden davon überzeugt zu sein, dass er am besten das Land versöhnen, die verlorene Arbeiterschaft für seine Partei zurückgewinnen und die Demokratie gegen rechte Zersetzungsversuche verteidigen kann. Der Wahlerfolg gegen Trump und das unerwartet gute Resultat der Midterms im November scheinen dem Mann, der eine beeindruckende Lebensgeschichte und ein halbes Jahrhundert Kongresserfahrung mit sich bringt, Recht zu geben.

Wenn der 80-Jährige mit der Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase aus dem Hubschrauber klettert und an den wartenden Reportern schmunzelnd vorbei in Richtung Westflügel des Weißen Hauses stakst, hat man zudem den Eindruck, dass ihm der mächtigste Job der Welt wirklich Spaß macht. Im Grunde hat er sein ganzes Leben darauf hingearbeitet. „Meine Frau sah mich immer am Supreme Court“, sagte er selbstbewusst schon 1974 dem „Washingtonian“-Magazin: „Aber ich weiß, dass ich ein guter Senator bin und ein guter Präsident wäre.“

Damals war Biden gerade 31 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor war er als jüngster Senator aller Zeiten in die zweite Kongresskammer gewählt worden. Kurz darauf hatte er seine Frau Neilia und die 18 Monate junge Tochter Amy bei einem tragischen Autounfall verloren. Der Witwer kümmerte sich zunächst alleinerziehend um seine beiden Söhne und pendelte täglich die 150 Kilometer lange Bahnstrecke zwischen seiner Heimatstadt Wilmington und der Hauptstadt Washington hin und her.

Biden schaffte, was Hillary Clinton nicht geglückt war

Dann lernte er seine heutige Frau Jill kennen, die er 1977 heiratete. Zweimal bemühte er sich in den folgenden Jahren vergeblich um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten. Als Vizepräsident wollte er sich im dritten Anlauf 2016 für die Obama-Nachfolge bewerben. Doch dann warf ihn der Krebstod seines  Lieblingssohnes Beau aus der Bahn. Biden verzichtete auf eine Bewerbung. Vier Jahre später aber schaffte er, was Hillary Clinton misslungen war: Er besiegte Donald Trump.

Die einzigartige Lebensgeschichte mag erklären, weshalb sich der Mann im Weißen Haus von Umfragen und Kritikern nicht beeindrucken lässt. Zudem drängt sich keine überzeugende personelle Alternative auf. Die natürliche Nachfolgerin, Vizepräsidentin Kamala Harris, hat in der blassen ersten Hälfte ihrer Amtszeit keinerlei politische Spuren hinterlassen. Sie gilt inzwischen als Totalausfall und wäre wohl die Garantin für eine Wahlniederlage.

Vizepräsidentin Kamala Harris.

Vizepräsidentin Kamala Harris.

Andere denkbare Kandidaten haben ein ähnliches Profil wie Biden, aber weniger Bekanntheit und Ausstrahlung. Die spätabendliche Politsatire-Sendung Saturday Night Live brachte kürzlich einen Spot im Stil eines Horrorfilms, bei dem sich Wähler zunächst vor einer erneuten Biden-Kandidatur gruseln. Dann begegnen ihnen - von dramatischer Musik untermalt - die Alternativen von Pete Buttigieg bis zu Hillary Clinton mit blutiger Vampir-Maske.

Bidens Alter spricht gegen ihn

„Warum eigentlich nicht Biden?“, fragt nach einer kurzen Pause eine junge Frau.

Dagegen spricht vor allem eins: Bidens Alter. Schon jetzt ist er der älteste Präsident aller Zeiten. Bei einer Wiederwahl stünde er kurz vor dem 82. Geburtstag, am Ende der nächsten Amtszeit wäre er 86. Zwar hat er gerade seinen jährlichen Gesundheits-Check-Up absolviert, und sein Leibarzt Kevin O'Connor hat bescheinigt, dass der 1,83 Meter große und 80 Kilogramm schwere Senior, der keinen Alkohol trinkt und nach eigenen Angaben fünf Mal in der Woche körperlich trainiert, „gesund“ und „kraftvoll“ ist.

Doch der öffentliche Eindruck ist bisweilen anders. Da verhaspelt sich der Mann, der als Kind stotterte, öfter als früher. Er hustet häufig (mutmaßlich eine Folge der von O'Connor diagnostizierten Refluxerkrankung) und geht steif (was der Leibarzt wohl mit der Wirbelsäulenarthritis erklären würde). Insgesamt wirkt er manchmal etwas unkonzentriert.

„Ich habe einen Frosch im Hals“, begann er Ende Januar einen Auftritt vor 250 Bürgermeistern im East Room des Weißen Hauses. Biden war bestens gelaunt und genoss sichtlich die Gesellschaft der meist pragmatischeren Kommunalpolitiker. „Ihr wisst, wie man Sachen hinkriegt“, schmeichelte er seinen Zuhörern, um bald das Manuskript hinter sich zu lassen und 50 Minuten lang von Anekdote zu Anekdote zu mäandern. Doch einige seiner Sätze endeten im Nirwana, und die Nummer der Hotline des Weißen Hauses musste ihm souffliert werden: „Ich habe sie vergessen“.

Biden verwechselt Vornamen, bringt Zahlen durcheinander

So geht das öfter bei Bidens öffentlichen Terminen. Mal verwechselt er den Vornamen eines engen politischen Weggefährten, mal gehen ihm ein paar Zahlen durcheinander. Und manchmal werden - wie am letzten Donnerstag - aus „Experten“, die Einzelteile des chinesischen Spionageballons untersuchen, plötzlich „Exporte“ der Komponenten.

Das alles wirkt im Vergleich zu den monströsen Unwahrheiten und Lügen, die Trump pausenlos von sich gibt, wenig dramatisch. Doch Politikberater der Demokraten sorgen sich, wie ein nuschelnder oder fahriger Biden in Fernsehduellen mit möglichen republikanischen Herausforderern wie der 29 Jahre jüngeren Nikki Haley oder dem 36 Jahre jüngeren Ron DeSantis herüberkäme.

Die republikanische HerausfordererIn Nikki Haley.

Die republikanische HerausfordererIn Nikki Haley.

„Nicht Amerika hat den Zenit überschritten, sondern seine Politiker“, feuerte Haley bei ihrem Kampagnenstart vorige Woche schon eine Breitseite sowohl gegen Trump wie gegen Biden ab. Ihre Forderung eines obligatorischen Demenztests für über 75-jährige Politiker dürfte nicht die letzte altersbezogene Attacke sein.

„Schauen Sie mich an!“, bürstet Biden derweil alle Fragen nach seiner Befähigung für eine zweite Amtszeit ab. Dabei dürfte ihm die Problematik sehr bewusst sein. Als 29-jähriger Nobody hatte er nämlich 1972 in seinem Heimatstaat Delaware frech den amtierenden republikanischen Senator Caleb Boggs herausgefordert, der ein Vierteljahrhundert Erfahrung im Kongress und im Gouverneursamt auf dem Buckel hatte. Entgegen allen Prognosen gewann Biden.

Am Morgen nach dem Wahltag versuchte die „New York Times“, ihren Lesern den Sensationserfolg des unbekannten Newcomers zu erklären, dessen jüngere Schwester Valerie mit Freunden von der Uni eher hemdsärmelig den Wahlkampf gemanagt hatte: „Bidens Enthusiasmus inspirierte seine Unterstützer“, schrieb das Blatt damals: "Seine Energie stand im tagtäglichem und offensichtlichen Kontrast zu der seines 63-jährigen Gegenspielers.

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