Viertklässler lesen schlechter„Schulen in Brennpunkten müssten mehr erhalten“

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Hilfsprogramme für Schülerinnen und Schüler, die während der Pandemie gefördert werden müssen, gibt es. Wo kommen sie an, wo nicht?

Köln – Leseraupen sind ein beliebtes Instrument, um die Lesemotivation von Grundschulkindern zu fördern. Für beispielsweise zehn Minuten lesen bekommen sie eine Unterschrift der Eltern in einen Lesepass. Ist der voll, können sie ihn in der Schule gegen eine Leseperle eintauschen. Die Perlen werden nach und nach aufgefädelt und ergeben am Ende eine bunte Raupe. Bei manchen Kindern wächst das Tierchen rasend schnell. Bei anderen knittert ein einziger Lesepass wochenlang im Mäppchen vor sich hin.

Jedes Kind lernt in seinem Tempo, das ist normal. Allerdings ist das am Ende nicht allein vom Können der Kinder abhängig, sondern auch von den Möglichkeiten, die ihnen ihr soziales Umfeld bietet. Das war schon vor Corona so. Doch das Dramatische nach zwei Jahren Pandemie ist, dass sich die Schere vergrößert hat. „Die soziale Schieflage hat enorm zugenommen, die Unterschiede sind viel eklatanter geworden“, sagt Ayla Çelik, die Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW.

Lesekompetenz deutlich schlechter

Eine repräsentative Studie der Universität Dortmund hat zuletzt verdeutlicht: Die aktuellen Viertklässler lesen auffallend schlechter als ihre Vorgänger. Diese Entwicklung ist besorgniserregend. Denn, so Çelik: „Lesekompetenz ist der Schlüsselfaktor für Lernerfolg in der Schule und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft.“

Lehrer stellen aktuell aber auch noch andere Defizite fest. „Die jetzigen Erstklässler haben sehr viel Aufholbedarf, bei ihnen merken wir die Corona-Auswirkungen noch massiver als bei den Dritt- und Viertklässlern“, sagt Sylvia Grosser, langjährige Schulleiterin einer Bergisch Gladbacher Grundschule und seit kurzem auch für eine Schule in Overath verantwortlich.

Celik

Ayla Çelik ist Vorsitzende der GEW NRW.

Selbstständiges Arbeiten und soziales Miteinander seien große Baustellen. „Die Vermittlung von Kompetenzen, die eigentlich im Vorschulalter erworben werden, ist in der Pandemie zu kurz gekommen“, sagt Grosser. Das kann kaum verwundern, viele Kitakinder waren in den vergangenen zwei Jahren nicht viel in den Kitas. Çelik bestätigt, dass selbst motorische Fähigkeiten wie der Umgang mit Schere und Papier zum Teil merklich schlechter entwickelt seien. Und auch hier: Die soziale Herkunft macht den Unterschied. „Kinder aus Akademiker-Familien stehen fast besser da als vor Corona“, sagt Çelik, „bei ihnen fand zu Hause zum Teil eine Eins-zu-eins-Betreuung statt.“

Nun hat die Landesregierung mit Unterstützung des Bundes im vergangenen Sommer das „Aktionsprogramm Ankommen & Aufholen“ aufgelegt. Die Schulen werden mit 430 Millionen Euro unterstützt. Aber kommt das Geld überhaupt dort an, wo es gebraucht wird?

„Die Rückmeldungen aus den Schulen und die Daten zu den einzelnen Programmen zeigen, dass das Aktionsprogramm in und außerhalb von Schule sehr gut angenommen und zum Wohle der Kinder und Jugendlichen flächendeckend umgesetzt wird“, heißt es aus dem Schulministerium NRW.

Nicht mit der Gießkanne

„Jeder Euro, der in unser Bildungssystem investiert wird, ist gut angelegt“, betont die GEW-Vorsitzende Çelik. Das Geld „gießkannenmäßig auf alle Schulen zu verteilen“, mache jedoch wenig Sinn. „Schulen in Brennpunkten müssten mehr Ressourcen erhalten.“ Zudem hänge es aktuell sehr von der Infrastruktur der jeweiligen Kommune ab, ob Projekte gestartet werden. Schulleiterin Sylvia Grosser macht da ganz unterschiedliche Erfahrungen: In Overath mit seinen fünf Grundschulen läuft es. In Bergisch Gladbach mit seinen 20 nicht.

Das nächste Problem: Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten ohnehin am Limit. Und auch hier gilt: Der Lehrkräftemangel ist an jenen Schulen noch größer, die als problematisch gelten. Außerdem: Die Schüler müssen die zusätzlichen Programme irgendwie unterbringen in ihrem Tagesablauf. Wenn sie von 14 bis 16.30 Uhr extra Aufhol-Unterricht in einer kleinen Gruppe bekommen, ist das einerseits eine tolle Sache. Andererseits schaffen sie dann in dieser Zeit ihre Hausaufgaben nicht und müssen später nochmal ran. „Die ohnehin enorme Belastung der Schüler und auch der Lehrer wird ausgeblendet“, sagt Çelik.

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Am Geld scheint es aktuell also nicht zu scheitern. Teilweise wird es sogar mit vollen Händen für Material oder Workshops ausgegeben. Aber: „Die kippen oben Geld aus und wir unten schwimmen und wissen gar nicht, wie wir alles umsetzen sollen“, sagt Grosser. An den Lehrplänen gibt es wenig auszusetzen. Der eine oder andere wünscht sich hier vielleicht etwas mehr Flexibilität. Oder, dringender, die Aussetzung der zentralen Leistungsüberprüfung Vera. „Die frisst nur Zeit und Ressourcen“, betont Çelik.

Und da liegt das eigentliche Problem. Was wirklich dringend gebraucht wird, ist gut ausgebildetes Personal. Drei Stellen mehr pro Schule wünscht sich Grosser. Eine sozialpädagogische Fachkraft steht zudem bei vielen Grundschulen ganz oben auf dem Wunschzettel. Doch gut ausgebildete Lehrer sind äußerst rar, selbst da, wo es offene Stellen gibt. Ayla Çelik formuliert zusammenfassend: „Die Arbeitsbedingungen für das Lehrpersonal zu verbessern, etwa durch gleiche Bezahlung für Grundschullehrer und mehr Stellen, ist die einzig wahre Chance, die Kinder aus armen Verhältnissen haben.“

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