Waldkraiburger AnschlägeFake News aus Oberbayern in sozialen Netzwerken geteilt

Ein Brandermittler der Polizei arbeitet drei Tage nach dem Brand eines türkischen Geschäfts in der Ruine.
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- Die Islamwissenschaflterin Lamya Kaddor schreibt in ihrer Kolumne über einen Tweet, in dem behauptet wurde, bei den Angriffen in dem 23.000-Seelenörtchen Waldkraiburg auf türkische Geschäfte sei eine rechtsradikale Terrorzelle am Werk gewesen.
- Die Nachricht erwies sich als falsch, wurde aber trotzdem Tausende Male geteilt.
- Ein Denkstück über soziale Netzwerke.
Mein Verhältnis zu den sozialen Medien ist, sagen wir es vorsichtig, gespannt. Sie bieten wütenden, aufgebrachten Menschen, die manchmal eine schlechte Erziehung genossen haben oder aus sonstigen Gründen wenig Anstand besitzen, eine Plattform und befördern Delikte wie Beleidigung oder die Androhung von Straftaten. Zugleich aber beleben sie Diskussionen und verschaffen Themen Aufmerksamkeit, die ansonsten untergehen würden.
So machte mich ein privater Twitter-Kontakt mit einem für das Genre typischen Sarkasmus vor einigen Tagen auf die Vorgänge in Waldkraiburg aufmerksam. „Dass in Bayern eine rechtsradikale Terrorzelle gerade Läden und Geschäfte von türkischstämmigen Deutschen angezündet hat, wisst ihr trotz Corona-Pandemie, oder?“ Er hatte recht: Obwohl ich regelmäßig verschiedenste Medien konsumiere, hatte ich bis dato noch nirgends gelesen, dass in Deutschland wieder einmal Verbrechen aus Hass auf Türken begangen werden.
Vier Angriffe auf Geschäfte
Wie kann das sein, dachte ich, wo einen bei so einer Konstellation die Erinnerungen an die Anschlagsserie des NSU geradezu anspringen? Vier Angriffe auf Geschäfte türkischstämmiger Deutscher in einem 23-000-Seelen-Ort in weniger als einem Monat wären für einen Zufall schon arg zufällig. Sollten erneut die Behörden versagt haben, weil sie auf irgendeinem Auge blind waren? Weil sie von „alltäglichen“ Straftaten der organisierten Kriminalität oder von Auseinandersetzungen unter „Clans“ ausgingen, wie einst beim NSU, obwohl die Möglichkeit rassistischer Motive eindeutig ist?
Ich begann mich für den Fall zu interessieren. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beteuerte glaubhaft, dass man die Sache „sehr, sehr ernst“ nehme. Eine Sonderkommission wurde gebildet mit mehreren Dutzend Mitarbeitern. Diese „Soko Prager“ vernahm laut ihrem Leiter Hans-Peter Butz mehr als hundert Personen und ging ebenso vielen Spuren nach.
Mein nächster Gedanke: Warum halten sich bundesweit die Medien dennoch zurück? Sollte es wieder mal daran liegen, dass „bloß Ausländer“ betroffen waren, „Türken“, „Muslime“? Sollten die Redaktionen die Anschläge als lediglich regionalen Vorfall gewertet haben? Obwohl vor gut einem Jahr selbst die „Tagesschau“ nach lautstarken Protesten von Rechtspopulisten über den „Schwertmord von Stuttgart“ berichtet hatte, dessentwegen gerade einem 31 Jahre alten Jordanier der Prozess gemacht wird? Die mediale Unterbelichtung von Waldkraiburg irritierte mich. Ungewöhnliche Vorfälle mit möglichen politischen Hintergründen, die überall im Land geschehen könnten, haben generell überregionale Bedeutung. Gerade in einer Situation, in der Rechtsterrorismus und islamistischer Terror reale Bedrohungen sind, möchte ich auch in Nordrhein-Westfalen wissen, wenn es im doch gar nicht so fernen Bayern eine Anschlagsserie gibt. Bundesweite Aufmerksamkeit ist nötig sowohl mit Blick auf die innere Sicherheit, als auch wegen der Folgen für den gesellschaftlichen Frieden.
Und nicht zuletzt geht es um zuverlässige, gesicherte Information. Nehmen wir nur einmal eingangs zitierten Tweet. Er wurde mehr als 2500 Mal retweetet und mehr als 7000 Mal favorisiert – in solche Dimensionen stoßen die Kurzmitteilungen reichweitenstarker Medien nur in Ausnahmefällen vor. Offenkundig war das Thema auf größeres Interesse gestoßen. Was übrigens für Journalisten nach allen Regeln der Kunst ein klassischer Grund zur Berichterstattung ist.
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Nur: Mit dem besagten Tweet wurden falsche Informationen verbreitet. Nach der inzwischen erfolgten Festnahme des mutmaßlichen Täters hat sich herausgestellt: Der Verdächtige, 25 Jahre alt, hat türkischstämmige Eltern, war offenbar islamistisch motiviert und bezeichnet sich als Anhänger des IS. Laut Minister Joachim Herrmann handelte Muharrem D. aus Hass auf gut integrierte Türken, die sich mit der deutschen Lebensweise arrangiert hätten. Anders als der Twitter-User behauptet hatte, war also keine „rechtsradikale Terrorzelle“ am Werk gewesen. Ferner gab es auch nur einen Brandanschlag, bei drei weiteren Angriffen wurden Scheiben demoliert und eine stinkenden Substanz verteilt.
Die falschen Informationen des Tweets, woher der Verfasser sie auch immer hatte, gingen an viele Menschen landauf, landab. Dem hätten seriöse Medien ein Korrektiv entgegensetzen können, wenn sie rechtzeitig und richtig berichtet hätten. Inzwischen haben die meisten von ihnen größere Beiträge veröffentlicht. Aber vor allem, so kommt es mir vor, weil der ganze Fall für viele so seltsam, geradezu skurril wirkt: Wieso attackiert ein türkischstämmiger Islamist türkischstämmige Muslime? Haben wir denn nicht – Achtung, Sarkasmus! – gelernt: Islamisten töten immer nur ungläubige Deutschstämmige?
Täterfixierung, stereotype Deutungsmuster, wenig Augenmerk auf die Opfer ... Bisweilen ist nicht nur mein Verhältnis zu den sozialen Medien – gespannt.
Lamya Kaddor gründete 2010 den Liberal-Islamischen Bund. Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt die Islamwissenschaftlerin über Interkulturalität und Integration.