Weltweite SpannungenDem G20-Gipfel in Indien droht eine desaströse Premiere

Lesezeit 4 Minuten
Sicherheitsvorkehrungen vor dem G20-Gipfel im indischen Neu Delhi

Sicherheitsvorkehrungen vor dem G20-Gipfel im indischen Neu Delhi

Die Spannungen mit Russland und China machen womöglich sogar eine Abschlusserklärung zunichte. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Gipfel.

G20-Gipfel sind immer eine große Herausforderung für die Staats- und Regierungschefs. Für sie ist es enorm schwierig, ihre vielen verschiedenen Überzeugungen unter einen Hut zu bekommen. Aber weil es die Welt voranbringt, wenn sich die Vertreterinnen und Vertreter von gut fünf Milliarden Menschen und damit mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung auf etwas verständigen, sind diese aufwendigen Treffen so wichtig.

Allerdings könnte Russlands Krieg gegen die Ukraine den Gipfel am Wochenende in Neu Delhi erstmals dazu führen, dass es keine gemeinsame Erklärung geben wird. Das würde das seit 2008 bestehende Format empfindlich schwächen. Es ist bereits vor Gipfelbeginn ins Wanken gekommen. Fünf Fragen und Antworten:

Warum kommt Russlands Präsident Wladimir Putin wieder nicht zum Gipfel?

Gegen den Kremlchef besteht ein internationaler Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen. Er müsste damit rechnen, dass er nicht nach Moskau zurückkäme, sondern in eine Zelle. Putin, der eigene Soldaten zu Zehntausenden in den Tod schickt, fürchtet aber selbst auch Anschläge. An Putins Stelle kommt wie 2022 Außenminister Sergej Lawrow. Gegen ihn liegt kein Haftbefehl vor. Der 73-Jährige, der seit fast 20 Jahren Außenminister ist, ist Putins Erfüllungsgehilfe. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will sich nicht persönlich Lawrow treffen, betonten deutsche Diplomaten. Die Bundesregierung sieht in einem Treffen keinen Sinn, da Lawrow ohne Putin nichts sagen könnte und ein Gespräch mit dem Kanzler für seine Propaganda instrumentalisieren könnte.

Alles zum Thema Olaf Scholz

Warum kommt auch Chinas Staatspräsident Xi Jinping nicht?

Dafür gibt es keine offizielle Begründung. Es ist das erste Mal, dass ein chinesisches Staatsoberhaupt einen G20-Gipfel schwänzt. Für Xi kommt Ministerpräsident Li Qiang. Das Verhältnis zwischen den beiden Atommächten China und Indien ist angespannt. Jüngster Affront Pekings gegen Neu Delhi: eine neue Landkarte, die den indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh einfach als Territorium der Volksrepublik markiert. Auch ein russisches Gebet wurde so vereinnahmt, aber Moskau hält still, weil es Pekings Wohlwollen braucht. Xi hat womöglich auch auf jene Regierungschefs wie Scholz keine Lust, die die sogenannte De-Risking-Strategie in den Handelsbeziehungen zu China verfolgen: Wirtschaftsgeschäfte nicht entkoppeln, aber sich aus Abhängigkeiten lösen. Davon könnte Indien profitieren.

Welche Chancen hat die Afrikanische Union (AU), in den G20-Kreis aufgenommen zu werden?

Womöglich wird die AU schon am Sonntag neues Mitglied sein. Die Länder des sogenannten globalen Süden sollen stärker eingebunden werden. Darin sind sich die meisten Mitglieder einig. Der Bundeskanzler betont immer wieder, dass die afrikanischen Staaten auf Augenhöhe behandelt werden müssten. Die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten gehört bisher als einzige Regionalorganisation zu den G20. Der Westen gilt als unverhältnismäßig stark vertreten. Der AU gehören insgesamt 55 Staaten an. Die Frage ist noch, ob dann auch anderen regionalen Organisationen wie der Celac-Verband lateinamerikanischer und karibischer Staaten und die Asean-Gruppe asiatischer Länder Staaten eine Mitgliedschaft angeboten wird.

Welche Ziele hat Deutschland bei diesem Gipfel?

Erstens: Eine scharfe Ansage an Russlands wegen des Kriegs gegen die Ukraine und ein klares Bekenntnis zum Prinzip der Territorialen Integrität. Zweitens: Klimaschutz, Ausbau der erneuerbaren Energien. Drittens: Entwicklungszusammenarbeit mit dem globalen Süden. So beschreiben es Regierungsvertreter. Allerdings gerät durch Russlands Krieg alles andere in den Schatten. So wurde schon in den Vorverhandlungen darum gekämpft, nicht hinter bisherige Vereinbarungen zurückzufallen, beispielsweise beim schrittweisen Ausstieg aus klimaschädlicher Stromerzeugung mit Kohle.

Schon 2022 auf Bali war die Einigung auf ein Abschlusskommuniqué eine Herkulesaufgabe. Wie sieht es diesmal aus?

Die Sherpas der Regierenden arbeiten seit Wochen an der Abschlusserklärung. Vor Beginn des Gipfels sah es aber düster aus, dass es zu einem Durchbruch kommt, weil wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine ein Riss durch die Gruppe geht. Ein Treffen ohne Abschlussdokument wäre aber eine desaströse Premiere: Bisher hat es immer eins gegeben - selbst als der ehemalige US-Präsident Donald Trump Wasser in jeden Wein kippte. So gab es 2017 in Hamburg eine 19:1-Erklärung zum Klimaschutz. Alle bekannten sich zum Pariser Klimavertrag, nur Trump nicht. Aber immerhin es gab ein Abschlusskommuniqué.

Schon 2022 auf Bali war die Einigung auf ein Abschlusskommuniqué eine Herkulesaufgabe. Wie sieht es diesmal aus?

Auf Bali konnte der Knoten noch durch geschickte Formulierungen durchschlagen werden: „Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste“, hieß es da. Und: „Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage und der Sanktionen.“ Diesmal stemmen sich Moskau und Peking gegen einen solchen Passus. „Das ist sicherlich das größte Hindernis, das abzuräumen ist auf dem Weg zu einer gemeinsamen Gipfelerklärung“, sagt ein deutscher Diplomat. Indiens Premierminister Narendra Modi will nicht zulassen, dass der Krieg die Bedürfnisse der Entwicklungs- und Schwellenländer des globalen Südens überschattet, wenngleich wichtigen Themen wie Ernährung und Klima damit verknüpft sind.

Wie steht es um Bemühungen, den Druck auf Russland zu erhöhen?

Für Scholz wäre es ein Erfolg, wenn es ein Abschlussdokument mit einem Bekenntnis zum „Respekt vor der territorialen Integrität aller Staaten“ gäbe. Das ist das Codewort für eine Verurteilung des russischen Kriegs: Kein Land darf die Grenzen eines anderen verletzten. In Regierungskreisen wird aber davor gewarnt, die G20-Erklärungen für das non plus ultra zu halten. Es wird auf die jüngsten Verhandlungen in Kopenhagen und Dschidda verwiesen. Dort tausche man sich dazu aus, wie es zu einem Ende des Krieges kommen könnte. Einen Gipfel ohne Abschlusserklärung wolle man sich dennoch „nicht ausmalen“, sagt ein Diplomat. „Wir davon aus, dass wir uns einigen werden.“

KStA abonnieren