Alle selbstverliebt?Wie viel Narzissmus in uns steckt

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Illustration: Eine kleine Katze sitzt vor einem Spiegel. Das Spiegelbild zeigt eine große, imposante Katze.

Narzisstische Menschen denken, dass Sie etwas Besonderes sind.

Der Psychologe Mitja Back erklärt im Interview, warum jeder Mensch narzisstisch ist und welche Vorteile das hat. 

Herr Back, das Bild von Narzissmus in den Medien ist völlig falsch, sagen Sie. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die je nach Diagnose-Tool 0,5 bis 2 Prozent der Bevölkerung betrifft, bekommt Ihrer Meinung nach zu viel Aufmerksamkeit. Was stört Sie daran?

Mitja Back: Es kursieren da zwei große Mythen: Einmal herrscht das Bild der bösartigen Narzissten als ausnutzende Manipulatoren vor, vor denen man sich in Acht nehmen muss und die man am besten wegsperrt. Und es gibt die „Arme-Würstchen-Theorie“, dass narzisstische Menschen traumatisiert sind und ihre innere Schwäche durch ein narzisstisches Theater kompensieren. Für beide Varianten gibt es keine Evidenz.

Wie Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden, wird auch in Fachkreisen kritisiert und möglicherweise bald anders geregelt. Sie untersuchen Narzissmus nicht als Störungsbild, sondern als eine Persönlichkeitseigenschaft. Was bedeutet das?

Es gibt kein Schwarz und Weiß, sondern ein Grau-Spektrum: Narzissmus ist als Persönlichkeitszug wie Intelligenz, Schüchternheit, Ordentlichkeit oder alle möglichen anderen Eigenschaften in der gesamten Bevölkerung breit verteilt. Dabei ist Narzissmus mal stärker und mal weniger stark ausgeprägt. Wir alle haben einen gewissen Narzissmus-Score, so wie wir alle eine Körpergröße haben. Das hat erst einmal nichts mit Krankheit zu tun.

Woran kann man narzisstische Persönlichkeiten erkennen?

Es gibt nicht das eine Signal, sondern Hinweise, die eher bei Narzisstinnen und Narzissten anzutreffen sind. Je mehr Hinweise, desto wahrscheinlicher habe ich es mit einem narzisstischen Menschen zu tun. Das fängt beim Äußeren an: Tatsächlich finden wir bei Narzisstinnen und Narzissten häufig eine höhere Attraktivität.

Woran liegt das?

Das kann verschiedene Ursachen haben, die wir noch nicht genau kennen. Die wahrscheinlichste ist, dass narzisstische Menschen mehr auf ihr Äußeres achten – sowohl was Kleidung, Körperpflege oder Sport angeht. Es kann aber auch sein, dass attraktivere Personen durch das soziale Feedback, das sie bekommen, eher eine narzisstische Eigenschaft entwickeln.

Und wie äußert sich Narzissmus im Verhalten?

Im nonverbalen Verhalten zeigen narzisstische Menschen häufig eine charmantere Mimik, machen mehr dynamische Bewegungen, haben einen aufrechteren Stand oder eine lautere Stimme. Auch in ihrer Sprache finden wir Unterschiede: Sie benutzen weniger Unsicherheitsworte, drücken sich provokanter, zum Teil anzüglicher aus. Obwohl man das erwarten könnte, hat eine Studie gezeigt, dass Narzisstinnen und Narzissten allerdings gar nicht häufiger „ich“ sagen als andere.

Das klingt ja fast bescheiden. Ich denke bei Narzissmus vor allem an Angeberei.

Ja, auch an selbstbewusst-dominantem Verhalten und Angeberei erkennt man narzisstische Menschen. Sie kommunizieren oft, wie toll sie sind.

Aber was unterscheidet narzisstische Menschen von solchen, die sich toll finden, weil sie einen gesunden Selbstwert haben?

Die meisten Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis danach, zu einer sozialen Gruppe dazuzugehören. Fühlen sie sich zugehörig, dann haben sie einen hohen Selbstwert. Bei Narzisstinnen und Narzissten ist das anders: Sie wollen nicht einfach nur dazugehören, sondern einen möglichst hohen Status innerhalb einer Gruppe haben. Sie brauchen die Bewunderung, den Applaus, die Ranghöhe.

Dieses Statusstreben nennen Sie als einen der drei Hauptaspekte von Narzissmus. Was macht Narzissmus noch aus?

Das Statusstreben ist eng verbunden mit Grandiosität und Anspruchsdenken. Narzisstische Menschen denken, dass Sie etwas ganz Besonderes sind, halten sich für grandios. Und weil sie eben so besonders sind, glauben sie auch, mehr verdient zu haben als andere. Sie stellen dann höhere Ansprüche, wollen etwa im Restaurant besonders behandelt werden. Diese drei Aspekte bedingen sich gegenseitig.

Sie haben einen Test entwickelt, durch den Menschen ihren Narzissmus-Score ermitteln können. Warum ist es sinnvoll zu wissen, wie narzisstisch man ist?

Es hilft meiner Meinung nach immer, sich richtig einzuschätzen – nicht nur bei Narzissmus, sondern auch, wenn man weiß, wie ordentlich, hilfsbereit oder intelligent man im Vergleich zu anderen ist. Man setzt dann womöglich seine Lebensziele etwas realistischer. Und man kann die Reaktionen anderer auf sich selbst besser verstehen und damit auch Beziehungen sinnvoller aufbauen.

Die meisten Persönlichkeitseigenschaften sind über die Lebensspanne recht stabil, auch wenn man sich natürlich etwas verändern kann. Gilt also: einmal narzisstisch – immer narzisstisch?

Es gibt bei Narzissmus einen allgemeinen Trend: Mit dem Alter werden Narzisstinnen und Narzissten eher altersmilde. Aber die Unterschiede im Narzissmus zwischen Menschen sind ziemlich stabil: Menschen bleiben im Vergleich zu anderen auch über Jahrzehnte hinweg oft ähnlich narzisstisch.

Die „Generation Z“ wird häufig als besonders narzisstische Generation stilisiert. Stimmt das?

Das ist einer der Hauptmythen zu Narzissmus. Mit der Idee, es gäbe eine „Generation Me“, haben manche Menschen sehr viel Geld verdient. Das Bild einer narzisstischen Epidemie, die über uns rollt, wurde durch die sozialen Medien noch einmal verstärkt. Schauen wir auf die wissenschaftliche Lage, dann sehen wir keinen solchen Trend über Generationen. Was man findet – und zwar zu jedem historischen Zeitpunkt, zu dem man misst: Jüngere Personen sind narzisstischer als ältere. Das liegt aber an ihrem Alter und nicht an ihrer Generation.

Hat das einen Grund?

Dieser Alterseffekt ist nachvollziehbar und psychologisch sinnvoll: Im jungen Alter wollen wir vorankommen, neue Leute kennenlernen, persönliche Ressourcen aufbauen. Das sind alles Ziele, bei denen ein bisschen Narzissmus hilft. Je älter wir werden, desto mehr fokussieren wir uns darauf, die Dinge, die wir erreicht haben, abzusichern und in wenige engere soziale Beziehungen zu investieren. Da stört Narzissmus eher.

Sie sprachen auch das Zusammenspiel von Narzissmus und sozialen Medien an. Nimmt Narzissmus zu oder wird er durch Social Media nur sichtbarer?

In sozialen Medien springt einem der Narzissmus auf allen unterschiedlichen Weisen entgegen: wie Menschen mit ihrem Aussehen, mit ihrer Großherzigkeit, mit ihrem Leiden angeben. Diese Form der Selbstdarstellung und des Bei-Anderen-Ankommens ist aber nicht neu. Das kannten wir auch schon aus der Offline-Welt mit anderen Spielzeugen.

Über soziale Medien haben wir jetzt eine andere Form der Skalierbarkeit: schneller, breiter, ortsunabhängiger. Narzisstinnen und Narzissten haben eine besonders große Motivation und meist auch Fähigkeit, sich dort selbst darzustellen. Und sie neigen eher zu extremerem Verhalten, was häufig von Algorithmen belohnt wird. In der Summe führt das dazu, dass wir eine größere Verbreitung von narzisstischen Menschen in Social Media haben.

Es wirkt also nur so, als hätten wir es mit mehr Narzisstinnen und Narzissten zu tun?

Dafür spricht der Stand der Forschung, ja. Narzissmus würde sich ja auch nur weiterverbreiten, wenn narzisstische Menschen quasi einen evolutionären Vorteil hätten. Ja, Narzissmus wird in sozialen Medien belohnt, diese Personen werden aber genauso oft wieder fallengelassen, beschimpft und von der Bühne gejagt, auf der sie eben noch bejubelt wurden. Im Endeffekt ist es ein Nullsummenspiel.

Wissen narzisstische Menschen eigentlich, dass sie narzisstisch sind?

Ja, tatsächlich zeigen Studien das. Es ist ein Mythos, dass Narzisstinnen und Narzissten das nicht bewusst ist. Sie wissen auch, dass sie auf andere arrogant wirken. Den meisten macht das aber nichts. Narzisstischen Menschen geht es im Leben meist stärker um das persönliche Vorankommen als um das soziale Zurechtkommen.

Trotz des negativen Bildes von narzisstischen Menschen in den Medien sind sie nicht unbeliebter als andere, im Gegenteil: Meist machen sie einen sehr guten ersten Eindruck, wie Studien zeigen. Was fasziniert andere so an Narzisstinnen und Narzissten?

In der ersten Phase der Begegnung bringen sie ganz viel mit, was wir mögen: Narzisstische Menschen können unheimlich charmant sein und selbstbewusst auf andere zugehen. Das bricht das Eis und öffnet eine interessante Tür zum Kennenlernen. Insbesondere weil Kennenlernsituationen häufig als stressig empfunden werden. Viele mögen oder bewundern Narzisstinnen und Narzissten dafür, dass sie das Eis brechen. Das andere ist, dass es einfach unterhaltsam und spannend ist. Man bekommt etwas geliefert.

…die narzisstische Show.

Es gibt da aber unterschiedliche Geschmäcker: Manche finden die lustig und spannend, es gibt aber auch Personen, denen das narzisstische Gehabe sehr schnell auf den Zeiger geht. Beim ersten Kennenlernen in vielen Kontexten hilft Narzissmus aber, wie wir in Experimenten feststellen konnten: wenn es um Freundschaften geht, in Beziehungen, bei der Personalauswahl. Auch narzisstische Politikerinnen und Politiker kommen erst einmal gut an.

Erfahren narzisstische Menschen genug Applaus, gehen sie meist mit einem strahlenden Lächeln durch die Welt. Wenn ihr Streben nach Status bedroht ist, kann das kippen
Mitja Back, Persönlichkeitspsychologe

Und wann werden narzisstische Menschen ungemütlich?

Erfahren narzisstische Menschen genug Applaus, gehen sie meist mit einem strahlenden Lächeln durch die Welt. Wenn ihr Streben nach Bewunderung und Status in irgendeiner Weise bedroht ist, kann das kippen: Wenn es etwa Konkurrenz gibt, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht, oder Kritik von anderen. Dann fahren Narzisstinnen und Narzissten auch mal den Ellbogen aus, machen andere runter, werden aggressiv oder plötzlich spitz im Ton.

In Ihrem Buch geben Sie auch Tipps, um mit narzisstischen Menschen im Job, in Freundschaften und Partnerschaften umzugehen. Wie klappt das?

Mit pauschalen Anleitungen sollte man sehr vorsichtig sein. Trotzdem gebe ich drei allgemeine Tipps mit auf den Weg – die drei G. Der erste ist Genuss. Wenn man in Beziehung mit Narzisstinnen und Narzissten steht, sollte man diese Kernkompetenz von ihnen wirklich wahrnehmen: aufregende neue Erlebnisse zu ermöglichen. Lassen Sie sich auf die Show ein. Beziehungen mit narzisstischen Menschen gelingen dann, wenn man Freiraum lassen kann – für sich und die andere Person.

Der zweite Punkt ist Gerechtigkeit. Man sollte gegenüber dem Narzissten oder der Narzisstin, aber auch gegenüber sich selbst gerecht bleiben: Das heißt, die andere Person mit ihrer Persönlichkeit anzuerkennen, statt ihr die zum Vorwurf zu machen oder zu versuchen, eine andere Person aus ihr zu machen. Nehmen Sie Ihr Gegenüber ernst und ziehen Sie es zur Verantwortung für ihr Verhalten. Dabei sollte man aber sich selbst und seine eigenen Vorstellungen nicht vergessen und keine faulen Kompromisse eingehen.

Was ist Ihr dritter Tipp?

Setzen Sie Grenzen. Das ist natürlich schwierig, weil Grenzen zu setzen immer ein potenzieller Kritikpunkt ist, auf den narzisstische Menschen empfindlich reagieren. Aber es ist wichtig, dass Sie sagen, was geht und was nicht geht, damit Konflikte nicht eskalieren und man selbst nicht unter die Räder gerät. Es kann helfen, die Grenzen positiv zu framen: „Es ist etwas ganz Besonderes, mit dir zusammen zu sein. Wenn du XY machst, denke ich, dass dir die Beziehung zu mir nicht wichtig ist. Das geht nicht. Wenn du das machst, dann erwarte ich eine Entschuldigung von dir. Danach können wir das aber auch abhaken.“

Sie sprachen von Gerechtigkeit. Werden wir narzisstischen Menschen in unserem aktuellen Umgang gerecht?

Ich denke, da gibt es noch einiges zu lernen. Wir sollten Narzissmus nicht als Krankheit sehen, narzisstische Menschen nicht als toxische Monster betiteln, sie bevormunden, bemitleiden oder als traumatisierte Geschöpfe pauschalisieren – dafür gibt es einfach keine wissenschaftliche Grundlage. Ich sehe Narzissmus als eine Kraft, die positiv und negativ wirken kann: Narzisstische Menschen können kreativ, gestalterisch und charmant handeln und tragen gleichzeitig zerstörerisches Potenzial in sich. Dass es Persönlichkeitsunterschiede gibt, ist erst einmal etwas Gutes und faszinierend. Wir sollten diese eher anerkennen und verstehen lernen statt sie zu verteufeln.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.

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