5 typische SituationenWarum Eltern ihr kleines Kind oft falsch verstehen

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Ein Kleinkind schreit, weil es sich nicht anziehen möchte.

Wut beim Anziehen hält Elternnerven auf Trab, ist aber nicht ungewöhnlich.

Das kleine Kind trödelt herum, hört nicht zu oder will sich nicht anziehen. Warum eigentlich? Eine Expertin erklärt.

Das Leben mit jüngeren Kindern ist wahrlich ein Abenteuer. Vieles, was die Kleinen so tun, lässt Eltern staunen und lachen. Bei manchen Verhaltensweisen und Gefühlsausbrüchen bleiben sie aber auch ratlos zurück. Was ist bloß jetzt schon wieder mit dem Kind los? Nicht selten treibt das scheinbar irrationale Verhalten kleiner Kinder Erwachsene zur Weißglut. „Das ist verständlich“, sagt Erziehungsexpertin Inke Hummel, „es liegt aber oft daran, dass sie ihr Kind einfach falsch verstehen.“

Viele Situationen erlebten Kinder nämlich ganz anders als Erwachsene. „Hier prallen zwei unterschiedliche Wahrnehmungswelten aufeinander. Kinder sehen, hören, fühlen und begreifen manche Momente eben auf andere Art.“ Warum die Eltern manches tun und wollen, das könnten kleine Kinder nicht immer nachvollziehen. „Eltern erwarten von ihrem Kind oft Dinge, die es in seinem Alter noch gar nicht können muss.“ Die Wahrnehmung von Kindern bilde sich erst Schritt für Schritt heraus. Viel von dieser Entwicklung passiere in den ersten sechs Lebensjahren. „Zu wissen, was in welchem Alter geschieht, kann Eltern helfen, entspannter damit umzugehen.“

Perspektivwechsel: Was sieht und hört das Kind?

Damit das Kind seine Wahrnehmung gut trainieren könne, müsse man alle seine Sinne ansprechen. „Das funktioniert, indem man Kinder in Dinge des Alltags einbindet, ihnen zum Beispiel einen eigenen Putzlappen in die Hand drückt, sie im Garten werkeln und Wege alleine gehen lässt.“ Kinder bräuchten vor allem Zeit und Übung, um sich die Welt zu erschließen. „Sie sind von Natur aus große Wahrnehmer und konzentrieren sich auf ihre Sinne“, sagt Hummel. „Eltern sollten ihr Kind draußen ruhig mal vorgehen lassen und sich überlegen: Was hört und sieht es gerade hier und jetzt im Wald oder auf der Kirmes?“ Für diesen Perspektivwechsel dürfe man gerne auf die Knie gehen und ausprobieren, wie die Welt von unten aussehe. „Es ist schön für das Kind, wenn Eltern sich für seinen Blick interessieren, das stärkt auch die Bindung.“

Ein Blickwechsel beim Thema Wahrnehmung sei jedoch in allen Altersstufen spannend. „Erfahrungen damit hat wohl jeder schon einmal gemacht. Auch Teenies und Eltern oder Partner und Partnerinnen können aneinander geraten, weil sie Dinge unterschiedlich wahrnehmen.“

Wir nehmen mit Inke Hummel fünf typische Situationen unter die Lupe, die für Eltern herausfordernd sind, aber aus Sicht des Kindes erklärt und eingeordnet werden können:

Situation 1: Am Morgen muss die Familie pünktlich aus dem Haus, aber das Kind trödelt

An dieser Stelle müsse man das Entwicklungsalter des Kindes anschauen. Bis zur Einschulung seien Kinder oft noch sehr egozentrisch im Denken und Wahrnehmen. „Für das Kind ist es in dem Moment eben wichtiger, seine Playmobilfiguren aufzubauen, als dass Mama pünktlich zur Arbeit kommt.“ Es könne vom Kopf her noch nicht begreifen, was es für die Mutter bedeute, zu spät zu kommen. „Wenn Eltern verstehen, dass ein Kind nicht absichtlich trödelt, weil es bösartig ist oder sie ärgern will, können sie anders damit umgehen“, erklärt Inke Hummel, „statt ihr Kind niederzumachen oder zu beschämen, können sie ihm zugewandt begegnen – selbst wenn sie es irgendwann aus der Tür tragen müssen.“ Grundsätzlich sei die Kooperationsbereitschaft des Kindes höher, wenn ansonsten seine Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmung, Nähe und Sichtbarkeit erfüllt seien.

Situation 2: Die Eltern sprechen das Kind an, aber es hört nicht zu

Warum ein Kind auf Ansprache nicht reagiere, könne mehrere Gründe haben. „Manchmal ist für ein Kind etwas anderes in dem Moment einfach viel wichtiger und spannender, es ist so vertieft, dass es die Aufmerksamkeit nicht auf etwas anderes, also etwa die Worte eines Erwachsenen, lenken kann.“ Hier könne eine wirkungsvolle Aufforderung helfen. „Nicht aus der Küche etwas zurufen, sondern nah an das Kind heran gehen, Augenkontakt suchen oder es leicht berühren und klare Worte finden.“

In anderen Fällen hörten Kinder auch bewusst nicht zu, weil sie einfach nicht hören wollten, was die Eltern sagen. „Kritik oder Vorwürfe tun dem Kind weh, da ist es eine natürliche Reaktion, sich sinngemäß die Ohren zuzuhalten.“ Manchmal würden Kinder aber auch tatsächlich nicht hören, dass etwas gesagt werde. „Hat ein Kind eine über- oder unterempfindliche Wahrnehmung, kann es womöglich die Elternstimme gar nicht herausfiltern aus den vielen Geräuschen im Raum.“ Eltern sollten hier genau hinschauen und das womöglich testen lassen und spielerisch üben.

Situation 3: Das Kind hat Probleme mit dem Anziehen – es möchte nur die eine Hose haben oder ohne Jacke raus

Auch was Probleme beim Anziehen betreffe, könne es mehrere Ursachen geben. „Manche Kinder, die sonst von den Eltern stark kontrolliert werden, holen sich hier ihre Autonomie und Selbstbestimmung zurück.“ Wenn Kinder nur bestimmte Kleidungsstücke anziehen wollten, hänge das aber auch oft mit der Wahrnehmung zusammen. „Manche empfinden Hitze, Kälte, Enge oder auch Stoffe eben ganz anders, dann drückt und kratzt jedes Zettelchen in der Hose.“ Eltern sollten den Kindern Raum für ihre Empfindungen geben. „Jeder spürt eben etwas anderes.“ Durch Berührungsspiele oder Massagen könne man dem Kind helfen, seine Körperwahrnehmung zu unterstützen.

Situation 4: Das Kind will nicht essen oder mag nur bestimmte Lebensmittel

Warum manche Kinder alles probierten und andere nur wenige Dinge, habe viel mit dem Charakter zu tun. „Es ist psychologisch schon angelegt, wie neugierig und offen ein Mensch für Neues ist – und das betrifft auch so etwas wie neues Essen auszuprobieren.“ Auch hier solle man ein Kind so annehmen und es auf keinen Fall beschämen oder zwingen, gewisse Sachen zu essen. „Je mehr Druck gemacht wird, desto eher verweigern sich Kinder. Sie spüren, dass ihre Wünsche keinen Raum haben und wollen dann auch keinen geben.“ Eltern sollten möglichst locker bleiben, immer wieder verschiedene Lebensmittel anbieten und Vertrauen haben, dass die Kinder sich holen, was sie brauchen. „Es ist auch eine gute Prophylaxe für spätere Essstörungen, ein Kind am Esstisch nicht zu sehr erziehen zu wollen.“

Situation 5: Das Kind fasst unterwegs alles an, zappelt und klettert überall hoch

„Es gibt Kinder, die sind sogenannte Reizsucher. Sie können nicht an der Schwester vorbeigehen, ohne ihr die Mütze vom Kopf zu ziehen und fragen nach einem langen Kita-Tag immer noch, was jetzt auf dem Programm steht.“ Solche Kinder bräuchten einfach mehr Input von außen, weil sie Dinge nicht so intensiv empfänden wie andere Kinder, die nach einem Tag Kita schon so viel gefühlt hätten, dass sie platt seien. „Das sind einfach Wahrnehmungsunterschiede.“ Kinder seien eben ganz verschieden. „Manche begreifen mit drei die Welt noch viel darüber, dass sie Dinge in den Mund stecken, andere erkunden alles mit den Händen und es gibt auch Gucker-Kinder, die nur beobachten.“

Gerade in der Öffentlichkeit oder in gewissen Situationen sei es für Eltern ein Balanceakt, damit umzugehen. „Manche Kinder sind geistig einfach noch nicht so weit, dass sie sich gut zurücknehmen können. Hier müssen Eltern eben erkennen, dass ein dreistündiger Besuch bei der Urgroßtante für ein kleines Kind vielleicht nicht der geeignete Ort ist. Dann lieber kürzer bleiben, ein Stück Kuchen essen und danach auf den Spielplatz.“

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