Konsequent erziehen„Wenn Eltern alles erlauben, verstehen Kinder: Du bist uns egal“

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Ein Mädchen schaut abwesend in die Luft.

Alles machen zu dürfen, das kann Kinder auch überfordern.

Bin ich zu streng oder doch zu locker? Das richtige Maß an Konsequenz im täglichen Erziehungsalltag zu finden ist ein schmaler Grat. Natürlich will man mit den Kindern nicht so hart und autoritär umspringen wie es früher war. Doch zu lasch soll es ja auch nicht zugehen, sonst könnten uns die Kleinen womöglich auf der Nase herumtanzen. „Erzieht uns einfach!“ fordert die Familienpsychologin Elisabeth Raffauf in ihrem neuen Buch und erklärt, was Kinder wirklich von ihren Eltern brauchen. Ein Gespräch.

„Erzieht uns einfach!“ – das klingt erstmal wie ein wütender Aufruf an alle Eltern nach mehr Durchsetzungsvermögen…

Elisabeth Raffauf: Der Titel des Buches ist überhaupt nicht wütend gemeint. Ich bin auf der Seite der Kinder und der Eltern. Die Botschaft ist eine andere, nämlich dass es wichtig ist, dass Eltern an den entscheidenden Stellen Verantwortung übernehmen, um den Kindern dadurch Halt und Orientierung zu geben.

Was bedeutet das genau?

Porträtfoto von Tina Raffauf

Elisabeth Raffauf ist Diplom-Psychologin, Familien- und Erziehungsberaterin und hat eine Praxis in Köln.

Eltern müssen schauen, was ein Kind auf der einen Seite wirklich selbst entscheiden kann, also wann es auch wichtig ist, es groß werden zu lassen. Und andererseits, an welchen Stellen sie als Eltern auch mal vielleicht unpopuläre Entscheidungen treffen müssen, um die Kinder zu begleiten und zu schützen.

Beherrschen das Eltern heute nicht so gut, sind sie zu wenig konsequent?

Das kann man pauschal nicht so sagen, aber viele Eltern sind unsicher, was in der Erziehung das Richtige ist. Für viele ist es schwer, ein Mittelmaß zu finden. Manchmal verhängen sie, weil sie im Zeitstress sind, hilflos oder wahllos Verbote und ziehen sie hinterher wieder zurück. So pendeln Kinder heute oft hin und her in einem weiten Feld zwischen Strenge und Alles-ist-erlaubt.

Welche Auswirkungen hat es für Kinder, wenn Eltern keine klare Linie haben?

Kinder sind damit überfordert, sie fühlen sich nicht beschützt und ihnen fehlt die Orientierung. Machen zu können, was man will, das klingt erst einmal gut, bedeutet für Kinder aber oft eine große Not. Denn wenn Eltern alles erlauben, steckt darin ja auch die Aussage „Es ist uns egal, was du tust.“ Und Kinder verstehen: „Du bist uns egal.“ Das ist ein schreckliches Gefühl.

Gleichzeitig übertragen Eltern, wenn sie keine klaren Grenzen ziehen, den Kindern Verantwortung für Dinge, die sie überlasten. Das gilt zum Beispiel in Krisen. Fallen Eltern aus, versuchen die Kinder sie zu unterstützen, indem sie den Haushalt schmeißen, die Geschwister versorgen oder die weinende Mutter trösten. Das sind alles Überforderungen für Kinder. Während Corona mussten mehr Kinder in diese Rolle schlüpfen, weil viele Eltern aufgrund ihrer Nöte mehr mit sich selbst beschäftigt waren und die Bedürfnisse der Kinder zeitweilig aus dem Blick geraten sind. Das ist natürlich fatal. Kinder machen ganz viel, damit es den Eltern gut geht. Das ist aber nicht ihre Aufgabe, sie sind ja das Kind und nicht der Kumpel oder Partner. Eltern müssen für sich selbst sorgen. Kinder sollten wissen, dass die Eltern sich bei Erwachsenen Unterstützung holen und sie nicht Mama oder Papa retten müssen.

Warum suchen Eltern oft eine Art freundschaftliche Beziehung zum Kind?

Buchtipp

Elisabeth Raffauf, „Erzieht uns einfach! – Was Kinder und Jugendliche von ihren Eltern brauchen“, Patmos Verlagsgruppe, 2022

Dahinter steckt manchmal die Angst, die Zuneigung der Kinder zu verlieren, wenn sie mal etwas Unbeliebtes sagen oder tun. Das ist eine verständliche Angst, auch weil viele Familien heute sehr klein sind. Manchmal fehlt Eltern einfach das Selbstbewusstsein, sich der eigenen Rolle als Mutter oder Vater und der guten Beziehung zum Kind sicher zu sein. Dadurch fällt es ihnen schwer, klar Orientierung zu geben und wie gesagt, auch mal deshalb „doof“ gefunden zu werden. Geben sie dem Kind aber nur Tolles, um seine Liebe nicht zu verlieren, dann führt es sie irgendwann am Nasenring durch die Manege. Denn Nachgiebigkeit erzeugt in dem Fall höhere Forderungen.

Wenn Eltern aber aus der Verantwortung heraus Entscheidungen treffen, müssen sie auch mal aushalten, dass das Kind sie nicht mag. Das geht vorbei und ist nicht schlimm. Es ist eigentlich eine gesunde Entwicklung, zeitweise die blödeste Mutter oder der blödeste Vater der Welt zu sein. Entscheidend ist ja die Haltung, die dahinter steckt. Wollen Eltern einen Kampf gewinnen oder wollen sie das Kind schützen und überblicken die Dinge einfach besser als es das zurzeit kann? Das Kind wird den Unterschied merken, auch wenn es das jetzt (noch) nicht zugeben kann.

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Immer mehr Eltern erziehen heute bedürfnisorientiert. Wie verträgt sich das mit Konsequenz?

Natürlich muss man die Bedürfnisse eines Kindes ernst nehmen. Eltern kommen diesen Bedürfnissen aber auch nach, wenn sie erkennen, was das Kind braucht. Will es jeden Tag zehn Schoko-Puddings essen oder bis nachts am Handy daddeln, wissen sie besser, dass es ihm nicht gut tut. Regeln können auch Bedürfnisse schützen.

Erziehen heute Kinder auch mal die Eltern?

Sagen wir es mal so, manchmal können die Eltern etwas von den Kindern lernen. Die bringen neue Ideen und Gedanken mit. Erwachsene sollten neugierig sein. Wenn das Kind Plastik reduzieren will, ist es doch gut, sich das anzuhören und dann eventuell auch selbst darauf zu achten. Es kommt natürlich immer darauf an, worum es geht. Wenn Kinder den Eltern sagen, wie die sich verhalten sollen, kann es brenzlig werden.

Woher kommt es eigentlich, dass viele Eltern heute in Sachen Erziehung so unsicher sind?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist der wahnsinnige Perfektionismus, der eigentlich in der ganzen Gesellschaft und auch unter Eltern herrscht. Die Kinder sind das Projekt und sie denken, alles muss ganz toll sein – als zeige sich daran, wie gut die Eltern sind. Die vermeintlich perfekten Bilder von Familien auf Instagram verstärken das noch. Dadurch entsteht ein wahnsinniger Druck auf die Eltern.

Machen Eltern dann lieber mal gar nichts, bevor sie etwas falsch machen?

Ja. Oder sie geben den Druck und die Ansprüche subtil an die Kinder weiter. Sie sagen dem Kind „Du musst einfach nur glücklich werden“, suggerieren ihm aber gleichzeitig „Aber du könntest eigentlich auch mehr“. Für die Kinder ist nicht klar, was die Eltern wollen. Dieses „aber“ wirkt bei vielen extrem nach. Ich kenne einige junge Menschen, die eigentlich gut da stehen, aber das Gefühl haben, sie schaffen ihr Leben nicht. Manche entwickeln große Ängste und Selbstzweifel.

Viele Eltern wollen auch bewusst anders erziehen als ihre Eltern – weniger autoritär, dafür mit mehr Offenheit und Verständnis. Eine verständliche Abgrenzung, oder?

Absolut. Gerade Eltern, die erniedrigt oder unter Druck gesetzt wurden, wollen es anders machen. Sie müssen sich aber fragen, wie das aussehen soll. Heißt „anders“ das krasse Gegenteil? Auch dann orientiert man sich ja immer noch an den Eltern. Wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen und zu schauen, was gut und was schlecht war und was man übernehmen will. Es sollte nicht darum gehen, sich selbst zu heilen, sondern um das Kind, das ja heute in einer ganz anderen Familie aufwächst.

Wie sollte eine gesunde und konsequente Erziehung also aussehen?

Viele stellen sich unter dem Begriff Konsequenz vor, alles wie Prinz Eisenherz streng durchzudrücken, was man zuvor verhängt hat. Aber Konsequenz muss ja nicht hart und starr sein. Es geht darum, grundsätzlich eine Linie zu haben. Eltern sollten nicht sofort umfallen, wenn die Kinder Gegenwind geben. Sie sollten bereit sein, auch mal der Prellbock zu sein, an dem sich die Kinder reiben und von dem sie sich auch bewusst abgrenzen können.

Manche Eltern hätten gerne die zehn goldenen Regeln der Erziehung, mit denen alles klappt. Aber es gibt kein Maß, das für alle Kinder gleich ist. Es geht auch immer um die individuelle Situation des Kindes. Eltern sollten einfühlsam und im Kontakt mit dem Kind bleiben und immer wieder neu schauen, was alters- und entwicklungsangemessen ist.

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