Aufwachsen im Internat„Ich fühlte mich anfangs abgeschoben“

Im Internat sind immer Gleichaltrige in der Nähe und gefeiert wird natürlich auch mal. (Symbolfoto)
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Köln – Harry Potter, Hanni und Nanni, Burg Schreckenstein: Fast jedes Kind und jeder Jugendliche kennt die Bücher und Filme über das Internatsleben. Was die Schülerinnen und Schüler hier erleben, erscheint aufregend und besonders, als wäre man durchgängig auf Klassenfahrt. Wie gerne hätte man früher an den geheimen Mitternachtspartys von Hanni und Nanni teilgenommen! Oder mit Harry Potter Quidditch gespielt. Aber ist das Aufwachsen im Internat wirklich so spannend?
Wie fühlt es sich an, von den Eltern getrennt zu sein? Sind Internatsschüler selbstständiger als Jugendliche, die bei ihren Eltern leben? Und gibt es den typischen Internatsbesucher? Wir haben darüber mit Erziehungswissenschaftlern und zwei ehemaligen Internatlern gesprochen.
„Am Anfang hatte ich oft Heimweh“
Benjamin Quiring kommt eher aus der Not heraus mit zehn Jahren auf das Internat des Bodelschwingh Gymnasiums in Windeck-Herchen. Hier wohnen etwa 70 Schülerinnen und Schüler, die entweder auf das Gymnasium, die Realschule oder die Hauptschule im Ort gehen.

Benjamin Quiring ist Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger.
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Benjamin besucht die fünfte Klasse des Gymnasiums und bleibt dort bis zum Abitur. Kurz zuvor ist sein Vater verstorben, zu seiner Mutter hat er keinen Kontakt. Weil seine Oma ihm die bestmögliche Bildung ermöglichen will, sucht sie für ihn das Internat in Windeck aus – nicht gerade um die Ecke vom hessischen Zuhause. Jedes zweite Wochenende holt sie ihn ab. „Natürlich hatte ich am Anfang oft Heimweh, damals gab es ja auch noch keine Handys, da musste man immer am Haustelefon warten, bis die Oma anruft“, erzählt der heute 36-jährige Journalist. Auf der anderen Seite habe es immer genug Kinder zum Spielen und viele Sportangebote gegeben, so dass ihm nie langweilig gewesen sei.
Die anderen Kinder und Jugendlichen im Internat seien ganz unterschiedlich gewesen: „Bei einigen gab es so wie bei mir einen familiären Hintergrund, manche Kinder waren da, weil sie zuhause Gewalt erfahren haben, einige Jugendliche hatten typische pubertäre Erscheinungen, also Drogenkontakt, Schulschwierigkeiten und Aggressionen. Und natürlich gab es auch die reichen Kinder.“
Zahlen und Fakten zu Internaten in Deutschland
In Deutschland gibt es rund 250 Internate, zum Großteil weiterführende Schulen. Die meisten Einrichtungen befinden sich in privater Trägerschaft. Einige haben eine eigene Schule, andere kooperieren mit Schulen aus dem Ort und dienen nur zum Wohnen. Man findet sowohl Einrichtungen für Kinder reicher Eltern als auch solche, die mit der Jugendhilfe kooperieren. Dementsprechend variieren die Kosten monatlich zwischen 400 und 1600 Euro und die Schülerschaft ist bis auf einige Ausnahmen, wie zum Beispiel Schloss Salem, bunt gemischt. Die Internate unterscheiden sich auch durch ihre inhaltlichen Schwerpunkte wie Musik, Kunst oder Sport. Einige große Fußballvereine betreiben eigene Häuser zur Nachwuchsförderung. Insgesamt ist die Internatslandschaft in Deutschland also durchaus gemischt, während sie in Ländern wie Großbritannien oder der Schweiz eher der Elitebildung dient.
„Das Internatsleben kann sehr ablenkend sein“
Zu den Jugendlichen mit „typischen pubertären Erscheinungen“ gehört Tom Billstein (Name geändert), heute 39 Jahre alt. In der neunten Klasse fliegt er vom Gymnasium in Mülheim an der Ruhr und kommt zunächst auf ein Internat in Hilden. Weil es hier auch nicht so gut klappt, wechselt er in der Mitte der zehnten Klasse aufs Gymnasium und Internat nach Herchen und macht schließlich mit mehreren Wiederholungen („Das Internatsleben kann sehr ablenkend sein.“) hier sein Abitur.
So wohl er sich am Ende fühlen wird, so schwierig ist der Start für den damals 14-jährigen Jungen: „Ich wollte nicht aufs Internat, meine Eltern haben das entschieden. Die ersten Wochen waren für mich sehr schlimm, ich war oft traurig. Später war ich vor allem wütend und frustriert, weil ich mich abgeschoben gefühlt habe. Dazu dann die Pubertät“, erinnert er sich.
Warum Kinder und Jugendliche auf ein Internat gehen, ist ganz unterschiedlich
Die Erziehungswissenschaftler Katrin Peyerl und Ivo Züchner von der Philipps-Universität Marburg haben 2016 eine empirische Bestandsaufnahme zu Internaten in Deutschland sowie eine quantitative Befragung in fünf Internaten durchgeführt.

Erziehungswissenschaftlerin Katrin Peyerl
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Sie wollten herausfinden, was es bedeutet, im Internat aufzuwachsen. Dazu befragten sie in Kooperation mit der Internate Vereinigung e.V. und dem Verband Katholischer Internate und Tagesinternate e.V. insgesamt 344 Schülerinnen und Schüler der Klassen sieben, neun und elf an fünf verschiedenen Einrichtungen, darunter auch externe Schüler. Verwendet wurden standardisierte Fragebögen. Alle Jugendlichen gehörten dem Gymnasialzweig an. Die inhaltlichen Schwerpunkte lagen auf den Themen soziale Beziehungen (Freunde/Familie), Bewertungen des Schul- und Internatslebens, Freizeitgestaltung sowie Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Dabei fanden sie unter anderem heraus, dass die Kinder und Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen Gründen aufs Internat kommen. „Hilfe zur Erziehung gehört dazu, aber auch die Abwesenheit der Eltern. Zudem gibt es gerade in wohlhabenden Familien eine Art Familientradition: Wenn die Eltern auf einem bestimmten Internat waren, werden die Kinder meist auch hingeschickt“, fasst Züchner zusammen.

Erziehungswissenschaftler Ivo Züchner
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Der Großteil der Jugendlichen erhofft sich mit dem Internatsbesuch eine besondere Förderung in Sport oder Musik sowie eine bessere schulische Ausbildung. Die Schulwahl wird meist gemeinsam mit den Eltern getroffen, auf welches Internat es dann letztendlich geht, entscheiden dann aber meist die Eltern. Im Durchschnitt leben die Kinder 150 Kilometer von ihrem alten Heimatort entfernt und fahren etwa alle zwei Wochen nach Hause.
„Meine Freunde aus dem Internat sind noch immer meine besten Freunde“
Tom und Benjamin werden in Herchen schnell beste Freunde und sind es bis heute. Damit bestätigen die beiden ein weiteres Ergebnis der Forschungen von Katrin Peyerl und Ivo Züchner: Weil die Jugendlichen im Internat in einer Art Inselsituation leben und fast alle Hobbys intern stattfinden, entsteht eine besondere Community. Die anderen Bewohnerinnen und Bewohner werden zu den wichtigsten Bezugspersonen, während andere Jugendliche auch viel mit ihren Familien besprechen. Peyerl hat in ihrer Befragung herausgefunden, dass die Jugendlichen diese Verinselung unterschiedlich wahrnehmen: „Manche finden es gut, nur in ihrem eigenen Umfeld zu bleiben, andere hätten lieber mehr Kontakt nach draußen und wären gerne mehr in die Region eingebunden.“
Auch bei Tom und Benjamin findet so gut wie alles in der Gruppe der Internatsschüler statt. „Wir waren ein sehr verschworener Haufen und haben uns gegenseitig immer unterstützt. Als mich auf dem Schulhof mal jemand verprügeln wollte, kamen sofort ein paar Ältere aus dem Internat und haben mich beschützt, obwohl ich mit denen eigentlich gar nichts zu tun hatte“, erinnert sich Benjamin. Gleichzeitig habe es viele Vorurteile gegenüber den Internatlern gegeben: „Wir waren automatisch immer schuld, wenn in der Schule etwas kaputt gegangen ist. Das schweißt natürlich zusammen.“ Tom ergänzt: „Wir haben uns als Außenseitergruppe cool gefühlt und uns über die Externen gestellt. Es gab nur ganz wenige, mit denen wir zu tun hatten, weil die sich sehr für unser Leben interessiert haben. Die haben wir Ehren-Internatler genannt und sind bis heute mit ihnen befreundet.“
Im Internat herrschen strengere Regeln
Nicht immer ist das Zusammensein mit den Externen ganz leicht, denn im Internat herrschen strengere Regeln als draußen. „Wenn zum Beispiel irgendwo eine Kirmes war, durften die anderen manchmal bis Mitternacht da bleiben und wir im Internat mussten um 21 Uhr zurück sein. Es war auch nicht immer einfach, alles mit den öffentlichen Verkehrsmitteln selbst hinzukriegen. Uns hat ja keiner gefahren“, erzählt Benjamin. Wie streng die Regeln sind, hängt vom Alter ab. Die Älteren haben mehr Freiheiten, wenn es in der Schule und auch sonst gut läuft, ist der Spielraum ebenfalls größer. Ändert sich das, ändert sich auch die Regel.

Im Internat lebt und lernt man mit anderen auf engem Raum.
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Nicht immer sei der Strafenkatalog für alle gleich angewendet worden, erzählt Benjamin: „Manchmal hieß es: drei Mal kiffen und man fliegt, andere sind viel öfter damit durchgekommen, ohne dass etwas passierte. Das fanden wir damals natürlich total ungerecht. Jetzt im Nachhinein verstehe ich, dass die Betreuer diese bestimmte Person nicht nach Hause lassen wollten, weil sie wussten, dass sie dort ein prügelnder Vater erwartet.“
Die Regeln zu brechen, schweißt zusammen
Die Jungs finden Wege, die strengen Vorgaben möglichst unauffällig zu umgehen. Tom erzählt: „Ich habe mich oft eingeschränkt gefühlt. Wir haben natürlich regelmäßig für uns die Regeln außer Kraft gesetzt und trotzdem ganz viele Sachen gemacht, waren drüben bei den Mädchen oder haben heimlich Party gemacht. Man lernt im Internat, leise zu feiern.“
Auch das macht wohl die Faszination des Internatslebens in Büchern und Filmen aus: Die Schülerinnen und Schüler halten zusammen und erleben Abenteuer, die für Gleichaltrige spannend sind, sei es als Kind im Wald oder als Jugendlicher mit ersten Alkohol-, Drogen- und Sex-Erfahrungen. „Man kann darin eine Faszination für das Jugendleben erkennen. Meist geht es um das gemeinsame Miteinander von Jugendlichen, die gemeinsam Abenteuer erleben. Zwischendurch gibt es Herausforderungen zu meistern, die die Gruppe noch enger zusammenschweißt. Das fasziniert viele Kinder und Jugendliche. Zudem erinnert das gemeinsame Wohnen immer ein wenig an Ferienfreizeit“, erklärt Peyerl. Dazu gehöre auch, ab und an zu rebellieren und die Regeln zu brechen. Auch Benjamin versteht gut, warum das Leben im Internat in Filmen und Büchern romantisiert wird: „Alles, was im normalen Leben stattfindet, findet im Internat auch statt – teilweise sogar noch potenziert. Das ist vielleicht ein Trugschluss von vielen Eltern, die ihr Kind aus erzieherischen Gründen aufs Internat schicken.“
Struktur des Internats hilft durch die Pubertät und wirkt noch heute nach
Heute sagen Benjamin und Tom beide rückblickend, dass ihnen die Regeln und Strukturen im Internat sehr durch die Hochs und Tiefs der Pubertät geholfen haben. „Das hat mein Leben sehr geprägt und mir extrem viel Struktur gegeben. Auch jetzt noch“, sagt Benjamin. Tom lobt auch die soziale Kontrolle durch die anderen Schülerinnen und Schüler und erzählt von einem großen Mobbingfall, den die Pädagogen damals nicht stoppen konnten. „Irgendwann haben wir als Älteste gesagt: „Schluss damit!“ Und dann hörte das auch auf. Man hatte den Freiraum, sich moralisch zu entwickeln. Und gleichzeitig haben die Erzieher an den richtigen Stellen eingehakt und Grenzen aufgezeigt.“
Adressen und weitere Informationen
Katrin Peyerl: Jugend im Internat. Fremd-, Mit- und Selbstbestimmung im Spannungsverhältnis von Jugend- und Organisationsleben, Beltz Verlag, 39,95 Euro
Wie findet man ein gutes Internat? Antworten auf diese Frage finden Sie auf der Seite der Internate Vereinigung e.V. www.die-internate.de.
Weitere Informationen und Tipps finden Sie auch auf der Seite www.internate-portal.de, hier können Sie auch für 12,50 Euro den gedruckten Internateführer bestellen.
Internate suchen und nach Schwerpunkten oder Regionen vergleichen können Sie auf der Seite www.internat-vergleich.de.
Verband Katholischer Internate und Tagesinternate e.V.: vkit.de
Evangelische Internate in Deutschland: www.evangelische-internate.info
Im Buch „Crazy“ beschreibt Benjamin Lebert eindrucksvoll und amüsant seine Zeit im Internat. Zum Buch gibt es auch einen Film.
Im Interview-Podcast „Hotel Matze“ mit Matze Hielscher spricht der Autor Benedict Wells ausführlich über seine Jugend im Internat.
Auch die von Katrin Peyerl und Ivo Züchner befragten Jugendlichen empfinden den Alltag im Internat als sehr durchstrukturiert, weil es für alles feste Zeiten gibt – Aufstehen, Essen, Hausaufgaben, Freizeit, AGs, Bettruhe. Gefragt, an welchen Punkten die Jugendlichen selbst- bzw. mitbestimmen können, zeigt sich in den Internaten eine große Spannbreite zwischen relativ vielen bis fast keinen empfundenen Möglichkeiten der Einflussnahme. So können die meisten ihre privaten Dinge sicher verschließen und ihr Handy außerhalb der Schule uneingeschränkt nutzen, viele haben aber keinen freien Zugang zum Internet und dürfen Outfit und Zimmergestaltung nicht frei bestimmen. Die Jugendlichen sind in der Mehrheit froh, selten allein zu sein, wünschen sich aber – wenig schlüssig – zugleich mehr Möglichkeiten, ungestört zu sein.
Die Betreuerinnen und Betreuer werden mehrheitlich positiv bewertet. Wie sehr das die Beziehung zu den eigenen Eltern beeinflusst, ist individuell verschieden. Tom zum Beispiel verbucht keine größeren Veränderungen: „Für diejenigen, die keine Eltern mehr hatten oder ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihnen, waren die Erzieher sicher die wichtigsten Ansprechpartner. Bei mir war das nicht so, meine Eltern – vor allem die Mutter - waren sehr präsent. Unser Verhältnis war nie grundschlecht, hat sich aber über die Zeit des Internats eher noch verbessert. Es war für mich auch nicht seltsam, wenn ich an den Wochenenden mal zuhause war. Irgendwann war das ja alles ganz normal.“
Sind Internatsschüler selbstständiger oder gerade nicht?
Kinder und Jugendliche, die im Internat aufwachsen, leben also einerseits innerhalb festgelegter Strukturen, müssen sich aber andererseits schon früher als andere in ihrem Alter selber um organisatorische Dinge kümmern und lösen sich so automatisch schneller vom Elternhaus ab. „Sie haben eben nicht immer Mama und Papa neben sich stehen, die sie zum Sport oder sonst wohin fahren und ihnen alle Entscheidungen und Probleme abnehmen“, sagt Züchner. Dennoch könne man nicht eindeutig beantworten, ob Internatler selbstständiger seien als andere. Die vorgegebene Struktur könne auch dazu führen, dass manche Angst vor dem normalen Leben nach der Schule hätten. „Wie sollen sie eine Wohnung finden? Wie kochen sie ihr Essen? Weil das Internat alles vorgibt, wird die Verselbstständigung an einigen Punkten verhindert“, glaubt auch Peyerl.
Benjamin zögert seinen Auszug aus dem Internat jedenfalls so lange wie möglich hinaus: „Ich habe das alles ganz langsam gemacht, weil es mir so schwer gefallen ist. Auf der anderen Seite habe ich mich auch sehr auf meine erste eigene Wohnung in Köln gefreut – eine WG mit meinen besten Freunden aus dem Internat.“ Danach geht es für ihn weiter von WG zu WG und weiter in erste gemeinsame Wohnungen mit Freundinnen. Erst mit 33 lebt er zum ersten Mal ganz alleine. „Ich musste erst lernen, nicht mehr ständig jemanden um mich zu haben, auch mal alleine zu sein und Dinge mit mir selbst auszumachen. Es war sehr ungewohnt, dass man nicht mehr einfach an die Nachbartür klopfen und mit jemandem reden konnte“, sagt er. Tom dagegen fällt der Auszug nicht so schwer: „Ich war gut auf das eigene Leben vorbereitet und habe mich nicht alleine gefühlt. Den Kern der Internats-Leute hatte ich immer um mich, bis heute begleiten sie mich als engste Freunde.“ Auch die engsten Freunde von Benjamin sind noch immer die aus dem Internat, wenn auch mittlerweile über mehrere Länder verteilt.
Ob sie ihre eigenen Kinder aufs Internat schicken würden, wenn sie welche hätten, können die beiden Männer beide nicht eindeutig beantworten. „Unter bestimmten Voraussetzungen schon: Wenn die Familie auseinanderbricht, wenn häusliche Gewalt passiert oder Überforderung da ist, wenn die örtliche Schule nicht passt und die Kinder keinen Anschluss haben. Dann könnte ein Internat eine gute Idee sein, weil es Struktur und Gesellschaft bietet“, sagt Benjamin. Auch Tom ist sich nicht sicher: „Ich würde sagen, das kommt stark auf das Internat an. Wenn es so ist wie bei uns in Herchen, würde ich Ja sagen. Wenn es so wäre wie vorher in Hilden, eher nicht. Ich kann darauf keine eindeutige Antwort geben.“