Trauma Schulsport?So funktioniert moderner Sportunterricht an Kölner Schulen

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Ein kleiner junge sitzt alleine auf der Bank im Sportunterricht.

Heute bleiben zum Glück nicht mehr immer dieselben auf der Bank sitzen.

Für die einen die beste Zeit, für die anderen das Grauen: Schulsport. Hier erklären Lehrerinnen und Lehrer aus Köln, wie guter Sportunterricht aussieht.

Manche haben Angst vor Mathe und Physik, andere vor Deutsch und Englisch. Mein Grauen begann in der fünften Stunde: Sportunterricht in der Mittelstufe am Gymnasium. Der Gummigeruch der Matten. Das Quietschen der Turnschuhe auf dem Linoleumboden. Und diese Mischung aus Herzklopfen und Bauchweh, wenn es darum ging, die Mannschaft zu wählen. Name für Name wurde aufgerufen. Meiner war fast immer unter den letzten.

Alexandra Eul

Alexandra Eul

Redakteurin im Ressort Magazin, Ratgeber und Freizeit. Im Rahmen des Arthur F. Burns Fellowship hat sie 2017 aus Kanada berichtet. Als eine der Medienbotschafter Indien-Deutschland der Robert Bosch St...

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Dabei war ich nicht unbeliebt in der Schule. Ich war auch nicht besonders unsportlich. Aber das Leistungsprinzip, das in den 1990er Jahren im Sportunterricht noch galt, versetzte mein Teenager-Ich in einen Zustand der Lähmung. Weder konnte ich weit werfen, noch weit springen. Bei Anstrengung lief ich ständig feuerrot an, wie peinlich! Vorturnen? Furchtbar! Am liebsten hätte ich jedes Mal mein Sportzeug vergessen.

Die Lehrerin hatte Kommentare notiert: fett, kann nichts, faul

Mit solchen ambivalenten Jugend-Erinnerungen bin ich nicht allein. Ein Freund erzählt mir: „Reflexe waren nicht so meins, der Umgang mit dem Ball auch nicht. Im Sportunterricht war ich deswegen entweder Luft - oder die anderen haben sich auf meine Kosten amüsiert.“ Eine andere las einmal die Kommentare, die die Sportlehrerin hinter die Namen der Schülerinnen und Schüler notiert hatte: „fett, kann nichts, faul“. Und selbst die, die richtig gut im Sport war, empfand den Sportunterricht als belastend: „Andauernd hat der Lehrer mich dazu aufgefordert, Übungen vorzumachen. Ich konnte die hasserfüllten Blicke der Mitschüler förmlich spüren.“ Eine Freundin fasste es kurz: „Völkerball und Bundesjugendspiele – der absolute Alptraum!“

Die Plattform „Krautreporter“ hat im vergangenen Jahr ihre Community gefragt, wie sie den Sportunterricht erlebt hätte. Rund 6000 haben geantwortet. Die Menschen berichten von Demütigungen durch Gleichaltrige und übergriffiges Verhalten durch Lehrpersonal. „Über 80 Prozent der Teilnehmer:innen der Umfrage glauben, ihre Erfahrungen im Sportunterricht hätten dazu beigetragen, dass sie noch immer nicht gern Sport treiben“, heißt es weiter.

Spoho-Expertin: Sportunterricht soll Freude an Bewegung vermitteln

Dabei sollte das Gegenteil der Fall sein, denn die Deutschen bewegen sich zu wenig. Die Zeit, die wir sitzend verbringen, beträgt durchschnittlich 8,5 Stunden am Tag, meldet der Gesundheitsreport der DKV. Auch in dem „Global Status Report on Physical Activity“ der Weltgesundheitsorganisation schneidet Deutschland vergleichsweise schlecht ab. 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen müssten aktiver werden, erklärt die WHO. Noch höher liegt dieser Wert bei Jugendlichen: 80 Prozent der Jungen und 88 Prozent der Mädchen bewegten sich zu wenig.

Es muss nicht mehr dieses ‚Höher, Schneller, Weiter‘ von früher sein
Petra Guardiera, Sporthochschule Köln

Grund genug, nachzufragen, wie es heute läuft im Sportunterricht. Und wie es laufen sollte, um nicht nur den ohnehin schon Leistungsbegeisterten, sondern allen langfristig Freude an der Bewegung zu vermitteln. Das sei schließlich eines der zentralen Ziele des Schulsports, erklärt die Sportpädagogin Petra Guardiera vom „Zentrum für Sportlehrer*innenbildung“ an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Wir rücken inzwischen die Individualität der Kinder und Jugendlichen viel stärker in den Vordergrund, als das früher noch der Fall war.“

Petra Guardiera im Porträt.

Petra Guardiera hat früher selbst Sport unterrichtet.

Natürlich geht es nach wie vor darum, die Sportkultur in all ihrer Breite darzustellen, dazu zählen Leichtathletik und Turnen genauso, wie das Erlernen richtiger Techniken und Spielregeln. Aber gleichzeitig sind Lehrende dazu angehalten, auch ohne den Leistungsgedanken an Bewegung heranzuführen. Anstatt direkt an die Sandgrube zu treten, springen Schüler zum Beispiel erstmal über Parcours aus Bananenkisten. „Es muss also nicht mehr dieses 'Höher, Schneller, Weiter' von früher sein, wir gehen viel offener an das Thema Sport heran.“

Das zeigt sich vor allem bei der Beurteilung. „Ich bewerte als Sportlehrerin ja nicht nur motorische Leistung, sondern auch die sonstige Mitarbeit, das Sozialverhalten und die Bereitschaft, am eigenen Fortschritt zu arbeiten“, erklärt die Sportpädagogin. In der Praxis sieht das so aus: Beim Fußball ist der verantwortungsvolle Umgang mit dem Team und Fairness untereinander genauso wichtig wie Tore schießen. „Mit einer sechsten Klasse habe ich letztens die Regel eingeführt, dass jeder nur ein Tor schießen darf“, erzählt Stephan Hierholzer, der Sport am Georg-Büchner-Gymnasium in Weiden unterrichtet. Das bedeutet, der beste Torschütze oder die beste Torschützin muss nach dem ersten eigenen Treffer dafür sorgen, dass auch alle anderen aus dem Team einen Punkt erzielen können.

Vor allem sind es psychosoziale Aspekte, die im Sportunterricht wichtiger geworden sind. „Anders als bei Fächern wie Kunst oder Mathe präsentieren sich die Menschen im Sport mit ihrem gesamten Körper, und natürlich erhöht das auch die Gefahr, gedemütigt zu werden oder sich zumindest so zu fühlen“, sagt Hierholzer.

Yoga, Akrobatik oder Inline-Skaten am Georg-Büchner-Gymnasium in Köln-Weiden

Dass solche Gruppendynamiken nicht auch noch befördert werden, sei heute eine der zentralen Aufgaben von Sportpädagogen. Auch stereotype Rollenbilder und Geschlechterklischees sind am Georg-Büchner-Gymnasium Thema. „Ich mache immer wieder klar, dass ein guter Fußballer nicht am Geschlecht auszumachen und Tanzen nicht nur etwas für Mädchen ist“, sagt Hierholzer. Entsprechend vielfältig ist inzwischen das Angebot an Sportarten, die unterrichtet werden. Dazu zählen Yoga, Akrobatik, Kampfsport oder Inline-Skaten.

Schiller-Gymnasium in Köln-Sülz vergibt zunächst keine Sport-Noten

Im Schiller-Gymnasium in Sülz werden bis einschließlich neunte Klasse gar keine Noten im Sportunterricht gegeben. „Bei uns bekommt man ein Sportzeugnis mit mehreren Bewertungskriterien“, erklärt Sportlehrer Christoph Offermann. Darin werden Verbesserungen in den Bereichen Technik, Taktik, Kreativität und Regelkenntnis separat eingetragen. Gleichzeitig werden Aspekte wie Fairness und der Umgang mit Misserfolgen sowie die motorischen Fähigkeiten bewertet.

Hinzu kommt eine Einschätzung zum Lernfortschritt und Ratschläge zur Verbesserung der sportlichen Leistung. „Wenn die Schülerinnen und Schüler das alles lesen, sind sie meistens gleich einen Kopf größer, weil sie ja sehr detailliert nachvollziehen können, wo sie über sich hinausgewachsen sind und wo sie sich noch verbessern können“, sagt Offermann. Er ist von dem Konzept so überzeugt, dass ihm der Mehraufwand egal ist.

Sportlehrer Christoph Offermann im Porträt.

Christoph Offermann steht hinter dem Konzept, im Sport keine Noten zu geben.

Petra Guardiera sieht es differenzierter. „Natürlich ist der Verzicht auf Noten einerseits eine große Chance für eine Entwicklung ohne zu viel Druck – aber wo wollen Sie andererseits die Grenze ziehen?“ Auch die Musik-, Kunst- und Religionslehrer könnten so argumentieren, dass ihr Fach eigentlich nicht mit nur einer Note zu bewerten ist. Und möglicherweise sei der Verzicht auf Noten auch nicht für alle ein Gewinn, fügt Guardiera hinzu. Zum Beispiel für die, die im Sport sehr stark sind – und hier eine Chance für eine Eins auf dem Zeugnis hätten. 

Denn es gibt ja auch viele, für die war der Sportunterricht das Tollste überhaupt. „Die Bundesjugendspiele – das war immer mein Tag, an dem ich endlich glänzen konnte“, erzählte mir ein Freund. Sportlehrer Stephan Hierholzer findet, dass die Bereitschaft, sich auf einen Wettbewerb einzulassen, ebenso ein wichtiges Lernziel des Sportunterrichts ist. Auch wegen des Vorbildcharakters: „Eine sportliche Leistung ist ja nicht nur für einen selbst, sondern auch für andere sehr motivierend sein, besonders zwischen älteren und jüngeren Schülern“, sagt er.

Dass Schülerinnen und Schüler ihre Teams selbst wählen, sollte heute übrigens eher die Ausnahme sein, verspricht Petra Guardiera. „Ich kann natürlich nicht für alle Lehrkräfte sprechen, aber in der Ausbildung bringen wir andere Methoden bei, weil sonst die Gefahr besteht, dass die immer gleichen diskriminiert und ausgegrenzt werden“. Es wird gelost, ausgezählt oder nach T-Shirt-Farben sortiert. Seit längerem schon gibt es die App „Team Shake“, die Teams per Zufallsgenerator auswirft. Vielleicht würde also sogar ich heute gerne zum Sportunterricht gehen.

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