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Sollen Kinder ohne Spielzeug spielen? - Teil II

Lesezeit 3 Minuten

Kinderspielzeug, das nicht (mehr) genutzt wird.

Neue Freundschaften entstehen

Auf dem Piratenschiff hocken die Jungen. Ohne die Mädchen. Im Gender-Bereich funktioniert das Projekt nicht so gut, erfahren wir. Aber sonst? Unglücklich wirken die Kinder nicht gerade. Neue Freundschaften sind entstanden. Die Mama von Nadine erzählt, ihr Kind spiele jetzt zu Hause viel intensiver mit den Sachen. Es kommen Selbstzweifel. Schauen wir nicht richtig hin? Sind es nicht Prenzlauer-Berg-Luxusprobleme, sich zu sorgen, ob die Kinder genügend Anregung haben? Wie sie das hinkriegen, Streit und Ärger unter sich zu klären?

Zum Projekt gehört nämlich, dass die Erzieher nur beobachten und sich möglichst nicht einmischen sollen. Doch mit welchen Worten soll sich der Jüngste durchschlagen? Und der Vierjährige lässt sich auch eher unterbuttern. Im August wird er fünf, die Kinderärztin hatte angemahnt, er müsse mehr malen, wegen der Schulfähigkeit. Braucht so ein Kind eine spielzeugfreie Zeit oder doch besser Stift und Papier?

Engagierte Erzieherinnen

Andererseits: Wir haben doch Glück, wir haben einen Kitaplatz, mehr noch, die Kinder sind bei engagierten Erzieherinnen untergebracht. Zwei sind aus „Westdeutschland“ nach Berlin gekommen, Marie wurde noch als „Krippenerzieherin“ in Eberswalde ausgebildet. Das war kurz vor der Wende. Die drei haben sich dann in einer Kita in Berlin-Mitte kennengelernt, sie hatten aber schon bald keine Lust mehr auf den Großbetrieb. Sie fanden die Atmosphäre unkollegial, die Arbeit uninspiriert. Einmal im Jahr besuchen sie Fortbildungen und kehren mit neuen Konzepten zurück. Zum Beispiel mit dem der spielzeugfreien Zeit.

Nach ein paar Wochen droht das Experiment aus dem Ruder zu laufen. In der Kita fuchteln die Jungs mit Stöcken herum. Eine Mutter fordert, dass das aufhört, als Kind hätte sie beinahe das Augenlicht verloren. Der Elternsprecher schaltet sich ein. Er richtet ein Doodle ein, es findet eine Abstimmung übers Internet statt, Einfluss hat sie nicht. Bei uns zu Hause wird die Affäre kontrovers diskutiert. Mein Mann ist für die Stöcke. Ein Vater unkt, die Stöcke seien in seiner Fantasie monströs groß geworden.

Man will, dass der Alltag funktioniert

Ich enthalte mich bei der Abstimmung, aber dann, eines Nachmittags, kommt mein Sohn nach Hause, quer über der linken Augenbraue verläuft eine zwei Zentimeter große Schramme. „Was hast du denn da?“, frage ich ihn. Die Schramme kommt von einem Stock. Die Kita will die Stöcke behalten, sie gehören zum Projekt: „Jede pädagogische Arbeit und Erziehung in Richtung Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit birgt Risiken!“, steht im Projekttagebuch. Die Mutter, die sich beschwert hatte, fühlt sich nicht ernst genommen, die meisten anderen stellen sich tot. Eltern, die nachmittags von ihren Jobs anrauschen. Die einfach wollen, dass der Alltag funktioniert.

Kurz vor den Ferien kommt ein Bericht. Die Erzieher sind zufrieden, begeistert von den Kindern. Weniger zufrieden ist man mit den Eltern, wir seien nicht solidarisch mit dem Projekt. Die Kinder haben kuschelige Höhlen gebaut und geheimnisvolle Labyrinthe, Züge beladen und mit Kohle beheizt. Unser großer Sohn hat mit den anderen Jungs Kartons zersägt, Dachziegel für ein Haus, einer der Stöcke war die Säge. Erste Prototypen der Biberburg sind entstanden. Langeweile war die Ausnahme. Wir staunen über die Fantasie unserer Kinder. Dass wir staunen, verrät viel über unser Leben.

Das Spielzeug bleibt also vorerst im Keller der Kita. Die Erzieherinnen wollen mit den Kindern gemeinsam entscheiden, welche Sachen wann zurückkehren sollen, was von den Materialien bleiben wird. Die Stöcke etwa. Die Erzieherin Marie sagt, sie hätte viele positive Reaktionen auf den Brief erhalten, in dem doch stand, dass die Eltern nicht richtig bei der Sache waren. Die meisten wollen das Projekt nächsten Sommer wiederholen. Seit ein paar Tagen fragt Jakob: „Heute keine Kita?“ Nächste Woche geht es wieder los.

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