Expertin erklärtWarum gibt es bei hohen Infektionszahlen so wenig Todesfälle?

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt

Nur gut 200 Corona-Patienten liegen in Deutschland derzeit auf Intensivbetten – obwohl es viele Neuinfektionen gibt. Was sind die Gründe für diese Situation?

  • Während die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen in Deutschland weiterhin deutlich höher ist als in den ersten Sommermonaten, gibt es immer weniger Todesfälle.
  • Woran liegt das? Wir haben die Kölner Infektiologin Prof. Clara Lehmann befragt.
  • Ihrer Meinung nach können neben einem jüngeren Durchschnittsalter der Infizierten auch Mutationen des Virus ausschlaggebend sein.

Frau Lehmann, in den vergangenen zwei Wochen gab es in Deutschland rund 70 Corona-Todesfälle. Alleine am 16. April waren es 315 – und auch in den Monaten Mai und Juni waren die Zahlen deutlich höher als heute. Parallel steigt die Zahl der Neuinfektionen. Wie erklären Sie sich das?

Prof. Clara Lehmann: Hier kommen mehrere Dinge zusammen. Zum einen ist es so, dass sich das Durchschnittsalter der Patienten verändert hat, hier liegen wir im Moment bei etwa 32 Jahren. In den Monaten März und April lag es bei etwa 45 Jahren – in Deutschland, in anderen Ländern lag es deutlich höher. Ein Patient mit einer Covid-Erkrankung hat heute im Schnitt weniger Grunderkrankungen, auch dies könnte ein Grund für insgesamt deutlich mehr leichte und asymptomatische Verläufe sein. Zum anderen kann es Veränderungen am Virus selbst geben. Es könnte also auch sein, dass sich SARS-CoV-2 so verändert hat, dass es mildernde Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf von Covid-19 hat.

Gibt es auch außerhalb der Zahlen bereits Hinweise für Mutationen des Virus?

Man weiß, dass es Veränderungen gab und gibt. Ob sich die schon festgestellte Variation auf den Krankheitsverlauf auswirkt, ist bislang völlig unklar – es muss noch untersucht werden.

Von den positiv Getesteten sind aktuell rund 60 Prozent unter 35, Anfang Juni waren es 40 Prozent. Kann das wirklich der entscheidende Faktor sein

Um diese Frage endgültig zu beantworten, müssen wir uns den weiteren Verlauf der Pandemie ansehen. Selbstverständlich spielt die veränderte Altersstruktur nicht die einzige Rolle, wenn es um gesunkene Todeszahlen geht. Wie relevant dieser Aspekt tatsächlich ist, bleibt abzuwarten. Fest steht: Wirt und Virus wirken sich auf die Krankheitsverläufe aus. Und beide haben sich verändert.

Zwar ist die Positivrate der Tests gestiegen, aber es wird zugleich auch deutlich mehr getestet. Liegt darin eine Teilerklärung für die scheinbar paradoxen Daten?

Ja, rein rechnerisch ergibt sich hier natürlich ein weiterer Grund. Je mehr man testet, desto mehr asymptomatische Verläufe findet man. Allerdings kann keineswegs behauptet werden, die gestiegenen Infektionszahlen lägen nur an den gestiegenen Testzahlen – denn die Rate der positiven Tests ist in Deutschland und Köln in den letzten Monaten deutlich angestiegen.

Aktuell liegen gut 200 Corona-Patienten auf deutschen Intensivstationen. Neigen wir aktuell dazu, die Gefahr zu überschätzen?

Nein, denn die weitere Entwicklung der Pandemie kann niemand absehen. Man muss sich klar machen, dass wir weder Impfstoffe noch fertige Therapiemöglichkeiten haben. Bislang haben wir hierzulande viel Glück gehabt. Jetzt kommt der Herbst, weitere Infektionskrankheiten werden dazukommen. Dann müssen wir den Winter überstehen. Innerhalb weniger Wochen kann sich das gesamte Bild ändern. Es ist weiterhin zu befürchten, dass wir noch am Anfang stehen. Auf mögliche Mutationen, die SARS-CoV-2 ungefährlicher machen, sollten wir uns auf keinen Fall verlassen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Welche Mutationen sind überhaupt denkbar?

Es gibt alle möglichen Varianten: Kleine Veränderungen, große Veränderungen. Solche, die dazu führen, dass andere Eigenschaften des Virus entstehen. Grundsätzlich sind Mutationen in den meisten Fällen nicht gut für Viren – denn oft werden diese durch konkurrierende Virusstämme, die sich besser übertragen lassen, eliminiert. Ob diese Virusstämme im Fall von SARS-CoV-2 tatsächlich ungefährlicher sind, bleibt abzuwarten.

Wie schnell gehen diese Mutationen vonstatten?

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, die zu Veränderungen eines Virus führen: Antigenshifts und Antigendrifts. Bei Drifts führen langsame Veränderungen des Virus nach und nach zu kleinen Mutationen. Bei Shifts treten plötzlich große Mutationen auf einen Schlag auf. Es ist auch beim neuartigen Coronavirus grundsätzlich möglich, dass innerhalb weniger Monate Veränderungen stattfinden. Das ließe sich erst retrospektiv feststellen.

Braucht es je nach Mutationsrichtung am Ende doch nicht unbedingt einen Impfstoff?

Das ist durchaus denkbar, klar. Aber ebenso ist vieles, vieles andere denkbar. Legt man die internationale Entwicklung der letzten Monate zugrunde, sieht es eher nicht danach aus, als könnten wir ohne Impfstoff einen Weg aus der Krise finden. Wir sollten aufgrund der aktuellen Zahlen in Deutschland nicht denken, wir seien aus dem Gröbsten raus.

KStA abonnieren