Bonner Philosoph im Interview„Man hätte nicht die Virologen fragen dürfen“

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Markus Gabriel, geb. 1980, ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Er hat dort seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart inne. 

  • Markus Gabriel, geb. 1980, ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn.
  • Wir haben mit ihm über Schieflagen in der Pandemiebekämpfung, Urlaubsrückkehrer, Krisenmanagement und die Öffnung der Kitas gesprochen.
  • Warum „Covidioten“ genauso gefährlich sind wie Raucher, Übergewichtige oder Autofahrer, warum wir aufhören sollten zu twittern – und warum es falsch ist, jugendliche Partymenschen zu verteufeln.

Herr Professor Gabriel, welchen Reim machen Sie als Philosoph sich auf die Corona-Pandemie? Markus Gabriel: Das Virus ist ein Warnschuss der Natur. Damit unterstelle ich nicht eine Absicht, obwohl man durchaus ernsthaft auch über so etwas wie eine Abwehrreaktion des Planeten gegen die vom Menschen verursachte Störung seines natürlichen Gleichgewichts nachdenken kann. Ganz nüchtern lässt sich aber zumindest feststellen, dass Covid-19 auf einer Zoonose beruht, d.h. dem Überspringen eines Virus vom Tier auf den Menschen. Durch Raubbau an der Natur hat der Mensch diese Art der Verbreitung von Übertragung massiv beschleunigt – und natürlich durch die globale Mobilität einer immer größeren Zahl von Menschen. Sind wir einfach zu viele? Eine gigantische Überbevölkerung ist fraglos ein Hauptproblem unserer Zeit. Es gibt zurecht den Ruf nach nachhaltigem Wirtschaften. Aber dann fällt doch auf, welch geringen Ertrag der weltweite Lockdown in puncto Klimaverbesserung gebracht hat. Das heißt: Selbst wenn wir alle zuhause bleiben und nicht mehr fliegen, treiben wir durch unser bloßes Dasein den Klimawandel voran. Wir reden gern von den furzenden Rindern und deren klimaschädlichem CO2-Ausstoß. Aber was ist mit den bald acht Milliarden furzenden Menschen? Wollen Sie auf eine Dezimierung hinaus? Nein, aber wir müssen unser Leben ändern. Das ist unsere einzige Hoffnung, und es wäre Zynismus, es nicht zu versuchen. Und wie sollen wir künftig leben?

Nachhaltig, tatsächlich nachhaltig – und das völlig konsequent. Ich glaube, das ist sehr wohl vereinbar mit moderner Technik und Wohlstand. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir sind in der Lage, Häuser zu bauen, die keinerlei Zusatzenergie für Heizung oder Kühlung brauchen. Die moderne Technik bedient sich dafür teils schon der uralten Erfahrungen indigener Völker wie der Kogi in Kolumbien. Das im großen Maßstab beim Hausbau umgesetzt – was wäre zum Wohnen besser und luxuriöser?

Die Menschheit hat die längste Zeit nachhaltig gelebt. Umweltverschmutzung im engeren Sinn gibt es erst seit 150, 200 Jahren.

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Vor 10.000 Jahren war sie kein Problem der Menschheit– im Gegensatz zu Säbelzahntigern. Nachhaltigkeit ist, menschheitsgeschichtlich gesehen, der Standard. Wir haben den Kompass verloren.

Die Preisgabe dieses Standards fällt geistesgeschichtlich zusammen mit dem Zeitalter der Aufklärung. Haben Philosophen mit Schuld an den Fehlentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts?

Das große Fortschrittsprojekt der Aufklärung wurde ab ca. 1792 politisch verraten – durch Napoleon. Vergessen wir nicht, dass die Industrialisierung im Wesentlichen ein Prozess des militärischen Wettrüstens war, mit dem die aufstrebenden Nationalstaaten auf die totalitären Feldzüge Napoleons reagierten. Das 19. Jahrhundert hat eine brandgefährliche Entkoppelung des naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritts vom moralischen Fortschritt gebracht. Das – und nicht die Aufklärung – hat die Zerstörungen zur Folge gehabt, mit denen wir heute zu kämpfen haben.

Wie könnte das noch ein gutes Ende nehmen?

Wir brauchen eine neue Aufklärung. Wäre es das oberste Ziel aller Akteure im Staat und in der Wirtschaft, nach den Grundprinzipien moralischer Einsicht zu agieren, dann könnten wir sehr viele unserer momentanen Schieflagen austarieren. Wir werden nie den perfekten Staat, die perfekte Wirtschaftsordnung bekommen. Aber eine bessere Abstimmung der Teilsysteme untereinander im Hinblick auf die Nachhaltigkeit unserer Lebensform – die können wir schaffen. Es müsste also in jedem Unternehmen genauso selbstverständlich eine Ethik-Abteilung geben wie die Buchhaltung. Und warum? Weil es – hallo! - um das Überleben der Menschheit geht. Weil wir so die Auswüchse des Kapitalismus in den Griff bekommen und dem natürlichen Fairness-Detektor wieder Geltung verschaffen würden, den jeder Mensch in sich trägt.

Glauben Sie wirklich? Hätten wir dann nicht immer noch einen Donald Trump und seine Wähler? Hätten wir nicht immer noch eine autokratische Supermacht wie China, die sich herzlich wenig um Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen für Philosophen in deutschen Firmen schert?

Das stimmt schon. Tatsächlich müsste geostrategisch an bestimmten großen Stellschrauben gedreht werden. Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor von Trump in den USA sind die sozialen Medien und die hinter ihnen stehenden Digital-Konzerne. Sie bestimmen die US-Wirtschaft mindestens so sehr wie die Automobilindustrie die deutsche Wirtschaft. Inzwischen folgen die Konsum- und Kommunikationsstrukturen der US-amerikanischen Öffentlichkeit der Logik der digitalen Medien, die auf Polarisierung angelegt ist. Genau deswegen ist ein Typ wie Trump Präsident geworden. Und dadurch wird das politische Weltklima immer giftiger. Im Umkehrschluss kann das aber nur bedeuten: Wir in Europa müssen es besser machen. Einer muss es ja besser machen.

Und was hieße das?

Alles dafür zu tun, dass diese zerstörerischen Formen der Kommunikation nicht noch weiter in die liberale Gesellschaft eindringen. Dazu gehört zum Beispiel eine Stärkung der Qualitätsmedien, der alten, etablierten Aufklärungsformate, der Zeitungen etwa.

Vielen Dank dafür.

Gern, aber ich meine das nicht als Schmeichelei für Zeitungsjournalisten. Der positive Wirkungszusammenhang zwischen Aufklärung und den Printmedien ist ziemlich gut erforscht. Natürlich waren Medien auch Instrumente in der Hand von Diktatoren. Was für Hitler das Radio war, das sind die sozialen Medien für Donald Trump. Und das meine ich nun in genau dieser Schärfe: Wer immer noch denkt, es sei doch gar nicht so schlimm, sich hin und wieder an Facebook-Debatten zu beteiligen, dem sage ich: Von wegen! Ich war selbst eine Zeitlang auf Facebook, um den Kontakt zu meinen amerikanischen Freunden zu halten. Aber als dort selbst amerikanische Großphilosophen anfingen, in der Corona-Krise den größten Unsinn und Fake News am laufenden Band zu verbreiten, habe ich mich endgültig verabschiedet.

Und?

Ich vermisse nichts. Im Gegenteil: Die gewonnene Zeit lässt sich sehr gut für weitaus wichtigere Dinge einsetzen. Es wird uns nicht gelingen, Facebook, Google, Apple und Co. komplett aus unserem Alltag zu vertreiben. Aber so, wie wir unsere Treibhausgas-Emissionen reduzieren müssen, müssen wir auch unsere digitalen Emissionen senken. Die sind nämlich gleich gefährlich. Google zum Beispiel ist die größte Überwachungsmaschinerie, die die Welt je gesehen hat. Dieser Konzern arbeitet an Formen künstlicher Intelligenz, die zu mehr Manipulation führen werden als jede noch so ausgeklügelte staatliche Propaganda. Das ist hoch gefährlich und stellt ein Sicherheitsrisiko für unseren demokratischen Rechtsstaat dar. Aber wir denken immer noch: Was ist an Google denn so schlimm? Ich sage Ihnen: Wir werden uns noch wundern!

Was genau ist bei einer von Ihnen geforderten Neuordnung der Welt das Angebot der Philosophie?

Fundamentale Menschheitsprobleme ohne Beteiligung von Philosophen lösen zu wollen, ist geradezu bizarr. Das Angebot der Philosophie ist rationale Verständigung, rationale Klärung der Grundlagen unserer Gesellschaft. Deren Grundpfeiler sind ins Wanken geraten. Wir spüren alle, dass wir auf schwankendem Boden stehen. Und ich glaube, daraus rührt auch das wieder erwachte Interesse an Philosophie.

Wenden Sie das doch bitte einmal auf die Corona-Krise an!

Die Menschen reagieren zurzeit sehr verschieden auf die Krise: mit Anti-Corona-Demonstrationen die einen, mit demonstrativem Maske tragen die anderen. Was die Philosophie leisten kann: die Reaktionen ordnen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen versuchen, statt es bei wechselseitigen Beschimpfungen zu belassen. Es wäre ein klarer Fehler, die Anti-Corona-Demonstranten in Bausch und Bogen als „Covidioten“ zu bezeichnen. Da mögen Verrückte dabei sein, aber es gibt auch viele Verrückte, die Maske tragen. Aber ich finde trotzdem, es gibt schon grundsätzlich einen Unterschied zwischen einer Pegida-Demo und einem Protest gegen die Einschränkung von Bürgerrechten.

Aber wer beim Demonstrieren absichtlich die Schutzregeln missachtet, gefährdet andere.

Das ist moralisch verwerflich. Gar keine Frage. Aber wir sollten nicht unterschätzen, dass wir durch unser Konsumverhalten viel Schlimmeres anrichten. Auch Raucher oder Übergewichtige belasten das Gesundheitssystem. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass Menschen durch Super-Spreader auf einer Anti-Corona-Demonstration zu Tode gekommen. Aber es besteht leider auch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zu Tode kommt, weil ich ein Auto kaufe. Werde ich deshalb als „Autidiot“ bezeichnet? Zum Glück nicht. Aber vielleicht müsste ich besser sagen: leider nicht. Klarerweise fokussieren wir uns angesichts einer dringend notwendigen Bekämpfung auf das moralisch verwerfliche Handeln einiger Menschen. Die große Mehrheit tut das Richtige und hält sich an die „AHA“-Regel (Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmaske). Gleichzeitig lassen wir sehr viel größere Gruppen ungeschoren, die – moralisch gesehen – weitaus größeren Schaden anrichten. Auf dieses Ungleichgewicht möchte ich zumindest kritisch hinweisen. Die Rationalität, die wir in der Corona-Bekämpfung verlangen, sollten wir auch für die Behandlung anderer Missstände fordern. Corona ist – so gesehen - unser kleinstes Problem.

Höre ich da den Vorwurf einer Hysterisierung heraus?

Nein. Ich bin im Grunde sehr beeindruckt davon, wie rational, reflektiert und ruhig wir in Deutschland – bei allen auch vorhandenen Pathologien – diese Krise managen. Deshalb lebe ich übrigens so gern in diesem Land wie schon lange nicht mehr. Mir geht es nur um die Aufdeckung versteckter Motivlagen in unseren Debatten.

Welcher Motivlagen?

Es geht derzeit oft nur darum, einen Bösen auszumachen, einen Schuldigen zu finden, den man für die Misere verantwortlich machen kann. Für die Mehrheit der Gesellschaft sind das zurzeit eben die Anti-Corona-Demonstranten, vorher waren es Chinesen, Ischgl-Touristen und manche andere. Ich habe keine sonderliche Sympathie für viele dieser Anti-Corona-Demonstranten. Aber sie müssen zu Unrecht als Sündenböcke herhalten – und es ist ja längst nicht ausgemacht, dass es dabei bleibt. Wer wird morgen oder übermorgen an der Pandemie schuld sein?

Die Urlaubsrückkehrer?

Ich selber bin in diesem Jahr nicht in Urlaub geflogen. Unter anderem weil ich genau wusste: Wenn ich zurückkomme, gehöre ich zu den Bösen, die das Virus unter uns verbreiten. Das war vorhersehbar. Und ich sage voraus: Es wird bald andere, schlimmere Formen der Suche nach den Schuldigen geben. Unter ihnen werden irgendwann die Virologen sein. Die werden es noch ordentlich abbekommen.

Warum denken Sie das?

Jetzt können wir noch alle gut moralisch daherreden und die Corona-Demonstranten zu Außenseitern erklären. Aber wenn eine Pleitewelle kommt und die Arbeitslosigkeit rasant steigt, dann wird es heißen: „Ich hätte meinen Job noch, wenn Leute wie diese Virologen nicht gesagt hätte, wir müssten alles herunterfahren.“ Das könnte zunehmend mehrheitsfähiger werden und weiter in die Mitte der Gesellschaft vorrücken. Ich fürchte eine ähnliche Dynamik wie in der Flüchtlingskrise. Da ist die Stimmung vom „Refugees welcome“ mit Applaus für Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof auch gekippt – mit zweistelligen Wahlergebnissen für die AfD als Folge.

Wenn Sie solche Entwicklungen schon vorhersagen, kann man sie dann nicht noch verhindern – in einer Versuchsanordnung wie im Film Minority Report, wo eine Spezialeinheit der Polizei schon heute gegen die noch nicht begangenen Verbrechen von morgen einschreitet?

Ein philosophisches „predictive policing“… Ja, das wäre eine gute Sache. Die Abwehr besteht in der Tat durch rationale Gesprächsführung. Hören wir auf, Demonstranten zu beschimpfen! Hören wir auf, den Scharfmachern wie Attila Hildmann eine Plattform zu geben. Dieser vegane Promi-Koch mit den verrückt-aggressiven Thesen mag ja irgendwie lustig oder interessant sein und vor allem: hören wir auf zu twittern. Wir müssen andocken an den Bedürfnissen der Menschen: Tanzen, feiern, singen, trinken - wer wollte den Leuten das verdenken nach sechs Monaten Pandemie? Die wollen nicht das Virus verbreiten, die wollen das Virus mal vergessen. Ich finde es falsch, das zu verteufeln. Viel besser wäre es, Formen zu suchen, diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, also Hygienekonzepte für Parties, denn die jugendlichen Partymenschen gehören auch zur Gesellschaft.

Sie sehen die Philosophen als Volksversteher?

Und als Volksaufklärer. Wir hätten klarzumachen, dass man bestimmte elementare Tatsachen über die Pandemie nicht mehr in Zweifel ziehen kann und darf. Ich nenne nur zwei. Tatsache 1: Es gibt kein Ende der ersten Welle, sondern nur eine – wie der Bonner Virologe Hendrik Streeck das lustig betitelt hat – Dauerwelle. Das ist aber noch nicht angekommen. Viele Menschen glauben, wenn erst ein Corona-Impfstoff da sei, werde die Pandemie verschwinden wie die Pocken. Nein! Ein Impfstoff versetzt uns nach heutigem Kenntnisstand wohl bestenfalls in eine Lage, wie wir sie von der Grippe kennen. Das heißt konkret: Es werden ab jetzt jedes Jahr sehr viele Menschen an einem schweren Verlauf von Covid-19 sterben. Man kann Covid-19 nicht wegimpfen. Das geht nicht, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit.

Tatsache 2?

Mit medizinischer Hilfe – Impfstoffen, Medikamenten – können wir sehr viele Menschenleben retten und das Gesundheitssystem entlasten, was uns dann die weitgehende Öffnung des gesellschaftlichen Lebens mit der viel beschworenen Normalität ermöglicht. Aber bis dahin heißt es: aushalten. Auch das müsste man klarer kommunizieren, als es derzeit geschieht. Damit sich nicht Millionen Menschen fragen, was das Ganze denn eigentlich noch soll. Zurzeit lassen wir relativ viele Neuinfektionen zu, weil sie im Sommer überwiegend asymptomisch verlaufen oder die Krankheitsverläufe eher milde sind. Beispiel: der Fall Tönnies. Von allen in Gütersloh Erkrankten ist meines Wissens bisher kein einziger gestorben. Darüber wird kaum geredet. In den Wintermonaten dürfte das wieder ganz anders aussehen. Da wird dann auch keiner mehr wiederholen, was Gesundheitsminister Jens Spahn unlängst gesagt hat: 1000 Neuinfektionen sind kein Problem. 1000 Neuinfektionen im Oktober oder November wären ein Riesenproblem.

Mit einer vernünftigen Gewichtung naturwissenschaftlich basierter Tatsachen lässt sich auch eine kluge, verantwortungsvolle Politik machen?

Genau. Aber das muss vermittelt werden, und das passiert nicht im erforderlichen Maße. In der Phase der großen Virologen-Dresche, die besonders Christian Drosten und Hendrik Streeck abbekommen haben, hätte es Philosophen gebraucht, die in aller Klarheit hätten erläutern können, wie die Logiken von Wissenschaft einerseits, von Politik andererseits funktionieren. An dieser Aufgabe sind beide unmittelbar Beteiligte – Wissenschaftler wie Politiker – gescheitert, obwohl sie die ganze Zeit sehr sachgemäß kooperiert haben. Und das – wie ich finde, war sehr gut. In der öffentlichen Debatte aber wurden sie aufeinander gehetzt, das geht so nicht.

Und auch das hätten Philosophen vermeiden können?

Ich behaupte ja. Dass Philosophen in den Krisenstäben nicht gleichberechtigt als Stimme mit am Tisch saßen, führt jetzt zur Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas. Es gäbe heute keine Corona-Demonstrationen, wenn es vorher nicht diese Angriffe auf die Virologen gegeben hätte, mit denen der Eindruck erweckt wurde, die Wissenschaftler hätten auch keine Ahnung oder wüssten nicht, was sie sagen. Moralische Grauzonen in einer Gesellschaft entstehen durch ein Defizit an Wissen. Deswegen ist es auch so gefährlich für eine wertebasierte Demokratie, wenn wissenschaftliche Expertise diskreditiert wird.

Aber es gibt doch auch den wissenschaftlichen Irrtum.

Expertise zu haben, heißt nicht automatisch, recht zu haben. Aber die Auseinandersetzung darüber kann und darf dann nur in der Sache erfolgen und nicht als moralische oder persönliche Diskreditierung. In der Frage nach den Kita-Öffnungen – ja oder nein? – zum Beispiel hätte man mit philosophisch-ethischer Abwägung die entstandenen Polarisierungen verhindern können.

Wie denn?

Man hätte von vornherein nicht die Virologen fragen dürfen, ob man die Kitas öffnen soll oder nicht. Dafür sind Virologen schlicht und einfach die Falschen. Nur medizinische Profis können uns über das Virus belehren. Ohne sie bekommen wir die nicht-moralischen Tatsachen nicht sortiert. Aber die Abwägung über das Handeln, das aus diesen Tatsachen folgt, müssen andere vornehmen und das kann auch nicht alleine auf den Schultern der Politik lasten. Wir brauchen den bunten Strauß der Geisteswissenschaften in der Öffentlichkeit, natürlich nicht nur die Philosophie.

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