Für immer Krise?„Im Moment ist die Nachlässigkeit einfach zu groß“

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Wie geht es nach sechs Monaten Krisenmodus weiter? Gerd Fätkenheuer, Gerhard Wiesmüller, Thomas Preis, Jürgen Zastrow, Walter Möbius, Damaris Sander und Peter Wehr haben diese Frage diskutiert.

  • Der Corona-Expertenrat des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat mehr als 400 Leser-Fragen beantwortet und in zahlreichen Interviews über das Virus und seine gesellschaftlichen Folgen aufgeklärt.
  • Nach rund sechs Monaten Pandemie haben unsere Experten nun eine Zwischenbilanz gezogen und über die Herausforderungen der kommenden Monate sowie bleibende Veränderungen der Gesellschaft durch Corona diskutiert.
  • Ist ein Impfstoff der einzige Weg aus der Krise? Was muss sich mit Blick auf die Krise heute dringend ändern, was in Zukunft – und warum?

Gibt es einen Weg aus der Corona-Krise? Gerd Fätkenheuer (Infektiologe): Es wäre illusorisch anzunehmen, wir könnten das Virus zu 100 Prozent beseitigen. Das geht nicht. Wir werden es dauerhaft mit Infektionen, Erkrankungen und Sterbefällen zu tun haben. Thomas Preis (Apothekerverband): Selbst wenn wir im kommenden Jahr einen Impfstoff haben, werden wir nicht 70 Prozent der Bevölkerung und mehr auf einen Schlag geimpft bekommen. Und bei den Geimpften wissen wir nicht, wie lange die Schutzwirkung vorhält. Jürgen Zastrow (Kassenärztliche Vereinigung): Es wird einen Impfstoff geben. Was dieser taugen wird, wissen wir leider noch überhaupt nicht. Mit dem Thema Corona werden wir uns, da bin ich mir sicher, auch im kommenden Sommer noch intensiv befassen müssen.

Gerhard Wiesmüller (Gesundheitsamt): Es kann natürlich auch sein, dass sich das Coronavirus durch Mutation zu einem normalen Husten- oder Schnupfenvirus entwickelt. Dann bräuchten wir nicht unbedingt einen Impfstoff. Es ist aber ebenso gut denkbar, dass Covid-19 nach mehreren Zyklen noch gefährlicher wird. In fünf Jahren können wir eine echte Bilanz ziehen. 

Fätkenheuer: Furchtbar ist, was Wladimir Putin gerade mit der Zulassung eines nicht ausreichend getesteten Impfstoffs macht. Er spielt russisches Roulette. Und obendrein spielt er wahrscheinlich auch noch Donald Trump in die Hände. Der Druck auf die Biotech-Firmen und die Zulassungsbehörden, weitere Anti-Corona-Präparate auf den Markt zu werfen, steigt dadurch enorm. Und Trump will die Corona-Gefahr ja mit allen Mitteln noch vor der Präsidentschaftswahl aus den Köpfen der US-Bürger heraushaben. Natürlich kann man angesichts der weltweiten Hoffnung auf einen Impfstoff Genehmigungsschritte beschleunigen. Man kann auch die klinischen Studien intensivieren. Dafür braucht es viel Geld. Das ist vorhanden. Um aber die Wirkungen und vor allem auch die Nebenwirkungen beurteilen zu können, braucht es einfach eine gewisse Zeit. Man kann nun mal nach einem Monat nicht sagen, ob ein Impfstoff auch noch nach sechs Monaten wirksam ist. Zwar kann man die nächsten Schritte in einer gewissen Parallelität schon mal vorbereiten und angehen. Sie aber komplett zu überspringen, wie Putin das tut, das ist unverantwortlich. Da kann man froh sein, in einer freien Gesellschaft mit ihrem System von Checks and Balances zu leben – trotz aller Ambivalenzen, Pathologien und Verrücktheiten, die eben auch zur offenen Gesellschaft gehören.

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Die Corona-Experten in der Diskussion mit Joachim Frank und Paul Gross.

Damaris Sander (Psychologin): Ich finde, die Corona-Warn-App ist ein gutes Beispiel für das Funktionieren unseres Systems. Bedenken von Datenschützern gegen die ursprüngliche Version wurden berücksichtigt. So wie die App jetzt konzipiert ist, habe ich sie mir mit gutem Gefühl herunterladen können. In autoritären Regimes wäre das nicht so gelaufen. Demokratie dauert manchmal länger, aber ihre Ergebnisse sind ausgewogener, stabiler und insgesamt besser für die Menschen.

Fätkenheuer: Ich finde auch, unsere oft gescholtenen Politiker haben in der Summe einen sehr guten Job gemacht. Aber versetzen wir uns einmal versuchsweise nach – sagen wir – Uganda. Wessen Modell der Krisenbekämpfung würde dort wohl als vorbildlich und wünschenswert erachtet? Etwa das Modell USA? Auf gar keinen Fall – angesichts der Zahlen und Bilder aus New York. Ich glaube, es wäre das Modell China. Denn, so ist doch der Eindruck: Die Chinesen haben es hingekriegt. Das heißt umgekehrt: Die „Führungsmacht der freien Welt“ hat die Bewährungsprobe nicht bestanden – zumindest aus der Perspektive jener, die selbst keine vergleichbaren Mittel haben, einer Bedrohung wie durch Corona Herr zu werden. In der Krise gewinnt das autoritäre Modell an Attraktivität. Diese etwaige politische Auswirkung der Pandemie macht mir sehr große Sorgen.

Und wie geht es hierzulande in den kommenden Monaten weiter?

Walter Möbius (Chefarzt a.D.): Man wird den Menschen jetzt, nach den Ferien, klar machen müssen, dass Verhaltensänderungen wirklich notwendig sind. Politisch muss das Nicht-Tragen von Masken anders sanktioniert werden. Hier müssen sich die Bundesländer einig werden. Es kann nicht sein, dass es hier 20 Euro kostet, 200 woanders und wieder woanders gibt es keine Strafe. Das ist nicht zielführend. Herr Spahn ist hier gefordert.

Wiesmüller: Außerdem laufen wir jetzt auf bestimmte Jahreszeiten zu, auch in Köln: 11.11., Weihnachtsmarkt, Karneval. Das Feiern im Privaten bringt mich immer wieder zu dem Punkt, dass alternative Angebote notwendig werden. Es klingt böse, aber: Menschen wollen Brot und Spiele. Wir müssen als Stadt definitiv über Ventile nachdenken – und das ist sehr schwierig. Selbst wenn uns das für Köln gelingt, werden wir so etwas wie Sicherheit nicht haben. Denn Stadtmauern gibt es nicht mehr, aus guten Gründen. Der Pop-Up-Biergarten war eine super Sache. Wohl nicht lukrativ, aber sehr sinnvoll.

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Lesen Sie auch, wie der Kölner Infektiologe Gerd Fätkenheuer, der Mediziner Walter Möbius, der Apotheken-Vorsitzende Thomas Preis, der Psychologe Peter WehrGerhard Wiesmüller vom Kölner Gesundheitsamt, die Juristin Gerlind Wisskirchen und Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, persönlich auf das erste halbe Jahr im Ausnahmezustand zurückblicken. _____________________________________________

Zastrow: Aktuell mache ich mir zunehmend Sorgen. Mit dem Auftreten des Virus gab es so etwas wie die Kraft der Überraschung – und die daran geknüpfte Vision, angemessen zu antworten. Das hat funktioniert. Der Hauruckeffekt ist weg, heute sind wir in der Routine. Und hier gibt es viel weniger Problembewusstsein. Wenn wir es schaffen, lokale Eskalationen aufzufangen, können wir den lokalen Lockdown womöglich verhindern. Aber: Kein Amt kann gegen die Bevölkerung arbeiten. Im Moment ist die Nachlässigkeit einfach zu groß.

Preis: Aber insgesamt verhalten sich die Leute sehr gesundheitsbewusst. Maske tragen – funktioniert. Abstand halten – funktioniert. Die Japaner oder Südkoreaner praktizieren das schon seit Jahrzehnten: Maske tragen, Körperkontakte im öffentlichen Raum meiden, zumindest im Großen und Ganzen. Und das schützt nicht nur gegen Corona. Jetzt kommt diese Erkenntnis auch bei uns an. Und siehe da: Es wirkt. Das lässt sich an ganz einfachen Beobachtungen festmachen: Es gibt kaum noch Erkältungen. Erkältungen oder grippale Infekte treten nur noch ganz vereinzelt auf.

Peter Wehr (Psychologe): Ein positiver Effekt könnte auch ein größeres Verantwortungsgefühl sein. Wenn ich erkältet bin, bleibe ich zuhause und schleppe mich nicht ins Büro, oder ich trage beim Bahnfahren eine Maske. Einfach aus Fürsorge.

Preis: Vertreter von Pharmafirmen berichten über einen Umsatzeinbruch bei den klassischen Medikamenten gegen Erkältungskrankheiten. Einfach deshalb, weil die Leute ein anderes Hygienebewusstsein haben, sich anders verhalten und ansteckende Situationen meiden.

Sander: Ehrlich gesagt: Ich will das nicht. Ich will auch nicht an Covid-19 erkranken, bestimmt nicht. Aber ich bin lieber mal erkältet, als das ganze Jahr aseptisch durch die Gegend zu laufen. 

Was müssen wir aus dem ersten halben Jahr Pandemie lernen?

Zastrow: Wir brauchen Geld. Wir müssen unten anfangen, bei den Pflegeberufen, im öffentlichen Dienst. Dann aber auch im Bereich der Ärzte. Das, was in der Gesundheit geleistet wird, muss angemessen bezahlt werden. Klatschen reicht nicht! Dass ich mal nach einem starken Gesundheitsamt rufe, hätte ich nie gedacht. Aber wir brauchen hier deutliche Fortschritte. Die Gesundheitsämter brauchen mehr Personal.

Wiesmüller: Ich denke, dass man aus der Wissenschaft heraus zu schnell mit unausgegorenen Meinungen um sich geworfen hat. Ich würde mir wünschen, dass sich Fachleute hinter verschlossenen Türen die Köpfe einhauen – und dann Ratschläge geben. Wenn Kollegen vor einigen Monaten gesagt haben, Kinder könnten eine große Gefahr darstellen, ohne es genau zu wissen, fällt uns das heute auf die Füße. Wie soll ich besorgten Eltern denn erklären, sie sollen sich keine Sorgen wegen ihrer Kinder machen? Wer glaubt mir da noch?

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Möbius: Aufklärung ist zu allen Tages- und Nachtzeiten notwendig. Das ist besonders auch an den Schattenseiten deutlich geworden: Die häusliche Gewalt hat massiv zugenommen. Kindesmisshandlungen sind vermehrt vorgekommen, es gab ein hohes Maß an Paarkonflikten. Wir müssen uns heute schon mit den Krisen von morgen und deren Bewältigung beschäftigen. Wir haben im Übrigen 500000 Firmen, die seit Corona eigentlich Insolvenz anmelden müssten. Die Tendenz ist steigend. Damit kommt etwas ganz Problematisches in Gang.

Zastrow: Ich stimme zu. Rechnungen werden nicht mehr bezahlt. Das ist eine Spirale.

Wiesmüller: In der Wirtschaft haben wir in den ersten Wochen, noch vor der Rezession, gelernt, dass das Leben auch ein, zwei Gänge langsamer funktioniert – zumindest zeitweise. Das haben wir aber ebenso schnell wieder verlernt. Und die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden wir noch merken und einordnen müssen.

Zastrow: Die Grenzen des Wachstums sind aktueller denn je.

Möbius: Das muss auch vorgelebt werden. Es geht um Angebote, das Denken und Leben so zu ändern, dass Maximierung nicht immer das Ziel ist. Dabei schwebt mir keineswegs ein Überwachungsstaat vor, es geht um eine andere Kultur des Miteinanders.

Wehr: Wenn wir von nachhaltigen Veränderungen reden, kommt mir das Homeoffice in den Sinn. In vielen Unternehmen bis vor ein paar Monaten kein Thema, weil angeblich zu teuer oder zu ineffizient, ist es auf einmal interessant geworden. Die bislang vorgebrachten Einwände haben sich als nicht stichhaltig erwiesen. Laut einer aktuellen IHK-Studie ist Homeoffice auch betriebswirtschaftlich sinnvoll: Der Wirkungsgrad ist höher. Die Umwelt wird entlastet, weil Fahrten zum Arbeitsplatz wegfallen. Mitarbeiter haben mehr Zeit als vorher und ein besseres Zeitmanagement. Ein Freund von mir steht jetzt morgens um fünf auf, arbeitet bis zur Mittagshitze und setzt sich dann abends nochmal ein paar Stunden an den Schreibtisch. Er findet das wunderbar, und der Arbeitgeber ist offenbar auch zufrieden. Die Firma hat die Homeoffice-Regel jedenfalls bis zum Jahresende verlängert.

Preis: Es fallen eine Reihe von Stressfaktoren weg oder verlieren an Gewicht. Ich denke etwa an den Autoverkehr zur Rushhour morgens und nachmittags. Das braucht keiner.

Wehr: Nach meiner Erfahrung in der therapeutischen Praxis haben bei einigen Patienten die Klagen über Stress-Symptome deutlich abgenommen. Ich habe gar nicht so selten Sätze gehört wie: „Ich traue mich ja fast nicht, es zu sagen, aber es geht mir seit der Krise besser.“

Sander: Die Arbeitenden haben im Homeoffice aber auch neue, andere Belastungen durch das Zusammenfallen von Wohnen und Arbeiten. Wenn ich höre, dass große Konzerne jetzt schon die Büroflächen reduzieren, weil die Mitarbeiter ja ebenso gut zuhause arbeiten können, dann muss ich sagen: Vorsicht! Nicht alle wohnen in vier, fünf Zimmern auf 100 Quadratmetern und mehr, wo man die Arbeitsbereiche komfortabel abtrennen kann. Und was ist mit den Bestimmungen des Arbeitsschutzes? Wer zahlt für eine adäquate Einrichtung des Arbeitsplatzes, für den Schreibtisch, für den Bürostuhl, für Beleuchtung? Ich habe die Sorge, dass die Unternehmen Kosten sparen zulasten der Arbeitnehmer.

Fätkenheuer: Man sollte jedenfalls nicht unterstellen, dass das Wohlbefinden der Beschäftigten erstes Ziel der Unternehmen ist. Das ist am Ende nämlich schon die Effizienz.

Wehr: Die Gefahren sehe ich auch und bestreite sie auch nicht. Ich will weg von einem Schwarz-Weiß-Denken. Vielleicht liegt die Zukunft ja sogar in den Mischformen: Zwei Tage Homeoffice, drei Tage Arbeiten im Büro; 20 Stunden Schulunterricht im Klassenraum, zehn Stunden mit E-Learning.

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