Neurowissenschaftler erklärtWarum Gehen die eigentliche „Superkraft” des Menschen ist

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Gehen kann glücklich machen. 

  • Unsere Gedanken beginnen in Bewegung zu fließen, mühelos fallen uns verschiedene Lösungen eines Problems ein.
  • Außerdem verlangsamt regelmäßiges Gehen offenbar den Alterungsprozess unseres Gehirns.
  • Der Ire Shane O’Mara erklärt das Gehen zur „Superkraft“ – und beschreibt die vielfältigen positiven Auswirkungen.

Köln – Die Arme pendeln, die Rabenkrähen jagen einander über die Pferdekoppel und das Weiß der Knoblauchrauke sticht heraus aus dem frischen Grün des Waldes. Ich setze einen Fuß vor den anderen und lasse meine Gedanken fließen. Ich gehe und denke nach übers Gehen. Meine Laufuhr spuckt am Ende folgende Daten aus: 53 Minuten und 42 Sekunden, 5,5 Kilometer, im Schnitt 9:46 Minuten pro Kilometer, 6437 Schritte. Gut. Genau richtig für divergentes Denken.

Corona regt die Lust zu laufen an

Corona hat uns Beine gemacht. Wir gehen spazieren. Nicht nur mit dem Hund oder am Sonntag zwischen Kaffeetrinken und Abendessen, sondern dauernd. Wir schlendern um den Block, wandeln am Rhein entlang, marschieren durch den Wald. So entfliehen wir dem drohenden Lagerkoller im eigenen Heim, wo sich Kinder im Homeschooling und Eltern im Homeoffice gegenseitig den letzten Nerv rauben. So halten wir uns fit, auch ohne Fitnessstudio und Yogakurs. Bleiben mit Freunden im Gespräch, die nicht mit uns unter einem Dach wohnen. Vermeiden die Straßenbahn und o ungewollten Kontakt zu Fremden. Oder versuchen zu finden, was wir uns eigentlich von einem Kurztrip ans Meer erhofft hatten: Ruhe, Entspannung, Urlaubsgefühle.

Wir gehen und merken: Es tut uns gut. Das sollten wir nicht wieder vergessen, auch dann nicht, wenn der Corona-Lockdown längst Geschichte ist. Denn wir Menschen sind fürs Gehen gemacht. Seit immer und ewig. Es macht uns aus, dass wir die Hände frei haben. Feuer machen, Essen erlegen, unsere Kinder über weite Strecken tragen und so alle Regionen der Welt erschließen – all das hat uns die Fähigkeit, ausdauernd auf zwei Beinen zu gehen ermöglicht.

Gehen als Superkraft des Menschen

Der Neurowissenschaftler Shane O’Mara erklärt das Gehen zur „Superkraft“ des Menschen. Asterix’ Zaubertrank, Popeyes Spinat, Hulk und seine Wut? Alles Kinderkram. Gehen kann dies: Es hält uns jung und macht uns fit, gesund, kreativ, gut gelaunt und sozial. Die Hintergründe erklärt der Professor aus Dublin in seinem Buch „Das Glück des Gehens“. Es ist 2019 erschienen, die deutsche Fassung kam im April auf den Markt. Ungewollt passend zur Corona-bedingten neuen Lust an der Fortbewegung auf zwei Beinen.

Gehen in einem Tempo knapp unterhalb der Schwelle, die ständige Aufmerksamkeit erfordert, unterstütze das divergente Denken in besonderem Maße, erklärt der Kognitionsforscher. Und damit die Kreativität. Wahrscheinlich, weil das Gehirn – ebenso wie der Rest unseres Körpers – beim Gehen in einer besseren physiologischen Verfassung ist als ohne Aktivität. Wir kurbeln die Atmung an, die Blutzirkulation, das Tempo unserer Energieverbrennung (die Stoffwechselrate). „Hirn und Körper bereiten sich darauf vor, zu handeln“, so beschreibt es O’Mara.

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In der fernen Vergangenheit unserer Evolution standen Beeren sammeln oder Büffel jagen an. Übrig geblieben ist, dass unsere Gedanken in Bewegung zu fließen beginnen und uns mühelos verschiedene potenzielle Lösungen eines Problems einfallen. Außerdem verlangsamt regelmäßiges Gehen offenbar den Alterungsprozess unseres Gehirns. In den Hirnarealen, die als Basis für Lernen und Gedächtnis dienen, habe man in jüngeren Experimenten an älteren Menschen eine Volumenzunahme festgestellt, schreibt O’Mara. Was bemerkenswert sei, da es den Schluss erlaube, dass das Gehen die Gehirnstruktur in etwa so stärke wie die Muskulatur. O’Mara berichtet von einem Forschungsprojekt an einem 62 Jahre alten Mann, der für drei Monate auf eine 1300 Kilometer lange Alpen-Wanderung geschickt und dabei rundum vermessen wurde.

Die Ergebnisse nach der Tour: Positive Veränderungen in allen Bereichen. Der Wanderer verlor rund ein Viertel seines Körperfetts (O’Mara: „Sie wollen abnehmen? Vergessen Sie das Fitnessstudio, begeben Sie sich stattdessen auf eine wirklich lange Wanderung.“). Außerdem ging die Menge der bösen Fette in seinem Blut, denen einige Formen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen angelastet werden, um nahezu 75 Prozent zurück. Wohingegen die Produktion guter Fette, von denen man annimmt, dass sie das Herz schützen, deutlich zunahm. Auch die Marker für Entzündungen und andere Krankheiten nahmen deutlich ab.

Schrittzähler-App besser als Fitnessstudio

Sie haben keine drei Monate Zeit? Und auch kein mobiles Labor an der Hand? Wer einen Ansporn braucht oder Buch führen will, dem reicht eine einfache Schrittzähler-App auf dem Smartphone. „Sie ist mein schlechtes Gewissen“, schreibt Shane O’Mara. 9500 Schritte pro Tag sind sein Ziel, noch besser seien 12.000, richtig glücklich machten ihn allerdings erst 14.000 Schritte. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt für einen gesunden Lebensstil 10.000 Schritte pro Tag. Das Tempo sollte nicht unter 5 bis 5,5 Kilometern pro Stunde liegen. Wer halbwegs aktiv ist, schafft das relativ locker. Wer mit dem Auto ins Büro fährt, dort zehn Stunden verbringt und den Tag vor dem Fernseher ausklingen lässt, schafft das nicht.

Wir müssen gar nicht allzu weit zurück blicken in unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung, um auf Zeiten zu stoßen, in denen körperliche Aktivitäten nötig und Nahrungsquellen knapp waren. O’Mara zitiert den Evolutionsbiologen Daniel Lieberman von der Harvard University: „Weil Energie aus Nahrung begrenzt war, wurde der Mensch auch nach der Fähigkeit selektiert, unnötige Anstrengungen zu vermeiden.“ Das erklärt unsere seltsame Beziehung zu körperlicher Aktivität: Wir sind außergewöhnlich gute Geher, können große Strecken zurücklegen, um Nahrung und Unterschlupf zu finden, aber wir können auch gut Pausen machen und unseren Energieverbrauch drosseln. Das Problem: Heute machen wir Pause und futtern Chips. Wir minimieren den Energieverbrauch, obwohl es uns an Nahrung nicht mangelt. Da helfen 10000 Schritte pro Tag nur, wenn die Chips in der Tüte bleiben.

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Wir profitieren aber nicht nur körperlich von Spaziergängen in der Natur, sondern auch emotional. Ein Gang im Grünen hebt unsere Stimmung, das belegen zahlreiche Studien. „Der Mensch ist seit Urzeiten ein Waldgänger“, weiß O’Mara und fordert mehr fußgängerfreundliche Grünflächen in Städten.

Gehen ist die Zukunft

Wenn wir gehen, dann oft gemeinsam mit anderen, denn das schafft Verbundenheit. Und ist ganz nebenbei auch eine erstaunliche Leistung des Gehirns und der Körperkoordination. Schritte müssen synchronisiert und dazu die Aktivitäten in verschiedenen Hirnregionen koordiniert und angeglichen werden, um den eigenen Weg dem derjenigen Personen anzupassen, mit denen wir gehen. Unsere Gehirne müssen simultan berücksichtigen, was der andere wahrscheinlich tun wird, sowie kontrollieren, was wir selbst tun. Wenn das gelingt, macht es uns zufrieden. Wenn der Papa vorwärts strebt, während die Mama sich dem Tempo des Kindes anpasst, geht die Synchronisation schief und aus sozialem Gehen wird ein Streit-Spaziergang. Macht nichts: Die positiven Wirkungen des Gehens sind ja vielfältig genug.

Shane O’Mara endet mit einem Appell: „Parken Sie Ihr Auto etwas weiter weg; steigen Sie eine Station früher aus dem Bus; erledigen Sie Ihre Einkäufe zu Fuß; gehen Sie zur Arbeit; bringen Sie Ihre Kinder zu Fuß zur Schule.“ Denn: „Gehen kommt aus unserer tiefen, evolutionären Vergangenheit. Und Gehen ist auch unsere Zukunft.“

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