Kinderarzt im Interview„Manche wollen Atteste, damit ihr Kind nicht zur Schule muss“

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Kinder in der Corona-Krise: Leiden sie unter dem fehlenden Umgang mit Gleichaltrigen?

  • Viele kleine Kinder dürfen stufenweise wieder in die Kindergärten. Einen eingeschränkten Regelbetrieb soll es erst ab September geben. Auch der Schulbetrieb läuft an.
  • Für viele Eltern in NRW gibt es trotzdem noch große Fragezeichen: Schadet den Kindern der fehlende Umgang mit den Gleichaltrigen? Wie läuft ein Abstrich in der Kinderarztpraxis ab? Kommen die Lockerungen zu schnell?
  • Ein Gespräch mit dem Kölner Kinderarzt Anselm Bönte

Herr Bönte, als wir das letzte Mal telefonierten, schienen alle Kinder in Köln gesund zu sein. Zumindest war fast keines in ihrer Praxis. Wie sieht es jetzt aus?

Anselm Bönte: Wir hatten echt ein paar Wochen den Eindruck: Wir werden nicht mehr gebraucht. Alle Kinder sind gesund. Aber jetzt merken wir schon, dass es wieder anzieht. Das RKI rät uns, auch wieder alle Vorsorgeuntersuchungen zu machen. Das tun wir auch und das wird auch gut angenommen. Wir merken: Die Leute haben auch Zeit, die Dinge zu erledigen. Und dazu gehört eben auch die Vorsorgeuntersuchung. Und manche Eltern kommen jetzt auch zu uns, weil ihnen Dinge an ihren Kindern auffallen, die besonders deutlich werden, weil die jetzt dauernd zu Hause sind. Zuletzt hatte ich eine Mutter, die über Konzentrationsstörungen ihres Kindes klagte. Oder eine, die den Eindruck hatte, ihr Kind wächst nicht schnell genug. Das fiel ihr im engen Kontakt vielleicht mehr auf als sonst.

Machen Sie auch Corona-Abstriche?

Ja, seit dieser Woche. Das RKI empfiehlt den Test ja jetzt schon bei leichten Symptomen. Wir hatten bislang vielleicht sieben Stück. Aber es war noch kein positiver Fall dabei.

Wie läuft so ein Abstrich in Ihrer Kinderarztpraxis ab?

Zunächst müssen die Eltern anrufen. Wenn dann rauskommt: Der Junge hat Husten und Fieber, dann bitten wir die Eltern mit ihrem Kind in die Infektionssprechstunde. Das ist eine Zeit am Tag, in der keine gesunden Kinder in der Praxis sind. Das Kind geht mit seiner Mutter von der Praxistür direkt ins Behandlungszimmer, also nicht ins Wartezimmer.

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Der Kölner Kinderarzt Anselm Bönte

Dann macht der Arzt mit normalem Mundschutz die Tür auf und fragt aus der Distanz nach: Was hast du? Wenn es Symptome wie Husten oder hohes Fieber gibt, dann sage ich: Ich komm gleich wieder, ich ziehe mich nur schnell um, du musst keine Angst haben. Ich gehe raus, ziehe eine sichere Masken an, außerdem Handschuhe und einen Kittel. So vermummt betrete ich das Behandlungszimmer und untersuche: Hals, Ohren, Lunge abhören. Ich mache den Abstrich und gehe wieder raus. Rezepte stelle ich noch im Behandlungszimmer aus. Zur Mutter sage ich, dass wir über das Ergebnis telefonieren. Der direkte Kontakt soll ja kurz gehalten werden. Dann verlassen Eltern und Kind die Praxis wieder auf direktem Weg.

Jetzt, wo die Schulen wieder öffnen und auch die Kindergärten langsam, gibt es da auch ängstliche Eltern, die fürchten, ihr Kind könnte sich anstecken?

Ja, viele haben Angst. Plötzlich fällt manchen ein, ihr Kind könnte Risikopatient sein. Manche wollen Atteste von mir, damit ihr Kind nicht in die Schule muss. Oder es gibt Eltern, die selbst eine Autoimmunerkrankung haben und sagen: Mein Kind soll nicht zur Schule.

Was machen Sie dann?

Das ist natürlich schwierig. Den Gesundheitszustand der Eltern kann ich ja nicht wirklich beurteilen. Ich versuche generell eher zu beruhigen. Tatsache ist: Wir wissen nicht genau, welche Rolle die Kinder bei der Infektionskette spielen. Wir haben es ja noch nicht erlebt, was passiert, wenn die Schulen eine Zeit lang geöffnet haben. Was wir aber wissen ist, dass Kinder sehr selten schwer erkranken. Und dann ist es ja so: Was ist denn die Alternative? Irgendwann muss das Kind ja in die Schule.

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Manche Eltern brauchen vielleicht ein bisschen Zeit, die sollen sie auch bekommen. Aber gerade erleben wir ja in kürzester Zeit einen unheimlichen Erkenntnisgewinn. Und Erkenntnis hilft eigentlich immer gegen Angst. Vielleicht müssen wir uns immer wieder neu justieren. Aber wir können im Laufe der Zeit immer besser mit dem Virus umgehen, da bin ich sicher.

Gibt es auch viele Eltern, die wollen, dass ihre Kinder endlich wieder in Schule oder Kita gehen?

Ja, natürlich. Für manche ist das ja auch schwierig gerade mit Homeoffice und das Kind stört dauernd oder kommt mit seinen Hausaufgaben nicht klar. Manche wissen auch nicht so genau, was sie mit ihren Kindern die ganze Zeit so anstellen sollen. Aber interessanterweise habe ich auch das Gegenteil erlebt. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Elternpaar mit Zwillingen, etwa vier Monate alt. Die waren ganz glücklich und sagten: „Für uns ist das ideal. Es ist eine tolle Phase. Wir kapseln uns ab. Auch der Mann ist zu Hause und wir sind so flexibel mit den Zwillingen zusammen. Wir genießen diese Zeit sehr.“

Ist das vielleicht auch für Kinder eine schöne Erfahrung so oft einfach mit den Eltern zusammen zu sein?

Für kleine Kinder kann ich mir das gut vorstellen. Die genießen das verlangsamte Tempo und auch die Enge mit Mama und Papa. Die sind in dieser kleinen Welt genügsam und zufrieden.

Finden Sie die Lockerungen jetzt trotzdem gut?

Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits geht mir das zu flott. Auf einmal rennen alle wieder in den Park. Und klar, die Kinder sollen wieder raus. Aber wir wissen nicht, was passiert, wenn es viele Ausbrüche in den Kindergärten oder Schulen gibt. Wo gehen die hin? Wen gefährden die? Da schlucken wir Mediziner und sagen: Muss das jetzt wirklich sein.

Und andererseits?

Gibt es natürlich nicht nur Viren auf der Welt. Sondern auch soziale Fragen. Ein großes Problem sind die Schul- und Kitaschließungen zum Beispiel für bilinguale Kinder. In meiner Praxis habe ich zum Beispiel zwei chinesische Zwillinge. Die sind vier und können kein Wort Deutsch. Für die ist ein halbes Jahr Pause Kindergarten ein echter Nachteil. Es kann sein, dass diese Kinder schlechter Deutsch können, wenn sie in die Schule kommen. Und dann gibt es natürlich Familien, da wäre es wünschenswert, wenn die Kinder auch mal raus kommen. Weil die Eltern dauernd vor dem Fernseher sitzen, sich nicht kümmern, gewalttätig sind.

Ich habe selbst einen Dreijährigen zu Hause. Der geht eingeschränkt in die Notbetreuung, da ist er das einzige Kind bislang. Wir Eltern sind ziemlich gestresst. Aber er hat – so ist unser Gefühl – die Zeit seines Lebens. Trotzdem sorge ich mich manchmal, weil er ja tatsächlich keinen Kontakt zu Gleichaltrigen hat.

So wie Sie das beschreiben, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Der ist glücklich und zufrieden. Der geht ins Bett und schläft, weil er ausgelastet ist. So ein Kind hat kein erhöhtes Risiko. Für so ein Kind wie Sie es beschreiben, ist das vielleicht schon eine prägende Erfahrung, aber aus meiner Sicht keine medizinisch oder entwicklungspsychologisch bedenkliche.

Jetzt wird es Sommer, die Spielplätze machen auf, vielleicht kann man sogar bald wieder Urlaub in der Region machen. Was empfehlen Sie Familien?

Ich bin kein Virologe. Aber ich bin sicher, dass draußen immer besser ist als drinnen. Da gibt es Platz, Luft und Wind, wenig enge Kontaktzeiten, weil sich alle bewegen. Deshalb würde ich den Spielplatz ok finden. Wenn Sie darauf achten, dass nicht alle Kinder auf einem Haufen auf der Rutsche liegen. Und Urlaub: In der Eifel mit der Familie an einem Bach einen Staudamm bauen, das kann nicht falsch sein. Aber sowas wie Centerpark geht natürlich eher nicht. Auch nicht in Deutschland.

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