Im Duisburger BG-Klinikum helfen Ärzte Patienten, nach einem schweren Arbeits- und Wegeunfall wieder zurück ins Leben zu finden. Einer von ihnen war der 21-jährige Yusuf Taspinar.
Leben nach schwerem Unfall„Bei jedem Bremslicht schrecke ich auf und schreie“

Yusuf Taspinar hatte einen schweren Wegeunfall. Noch auf der Straße musste er reanimiert werden. Seit zwei Jahren sucht er den Weg zurück ins Leben. Das BG Klinikum Duisburg und die gesetzliche Unfallversicherung hilft ihm.
Copyright: Arton Krasniqi
Der Sommer hat seinen Wolkenvorhang schon beiseite gezogen. Die Bühne für die Sonne ist frei, die Vorstellung kann beginnen. Yusuf Taspinar (21) ist jedenfalls bereit. Er ist ein „freier Junge“, wenn jemand zur Vorsicht mahnt, dann erwidert er: „Mir passiert schon nichts.“ Vor sechs Monaten hat er seine Ausbildung als Elektriker für Energie- und Gebäudetechnik abgeschlossen, er hat einen guten Job, im Chempark in Krefeld zieht er die Kabel, nächste Woche wird er endlich seine eigene Baustelle bekommen, seine Eltern sind auf den Weg in den Urlaub, nach einem frühen Feierabend an diesem Freitag Anfang Juni hat Yusuf deshalb sturmfrei. Er sitzt schon auf dem Fahrersitz seines neuen Audi A4, grau-metallic, er lässt das Fenster nach unten surren, warmer Wind, aus den Boxen wummert sein Lieblingssong, der Himmel leuchtet wie aus türkis-blauem Glas. Es sind noch zwei Kilometer, dann kann das Wochenende beginnen. Er freut sich.
13 Tage Koma. Das einzige, an was Taspinar sich erinnern kann, sind die Albträume: „Ich wurde geschlagen, getreten, gekidnappt, betrogen. Mein Leben in diesen Tagen bestand aus Gewalt, ununterbrochen.“ Als er endlich aufwacht, hat er Tagträume – und unerträglichen Durst. Auf dem Spülbecken gegenüber seinem Bett steht eine grüne Wasserflasche. „Ich bin hingerannt, habe sie aufgeschraubt und getrunken“, sagt Taspinar. Allerdings nur in seiner Vorstellung. In Wirklichkeit wird es noch Wochen dauern, bis er überhaupt den Kopf heben kann. Denn Taspinar ist schwerstverletzt und schwebt in akuter Lebensgefahr.
In den Lokalmedien liest sich das so: „Freitagmittag (13:15 Uhr) hat es einen schweren Verkehrsunfall auf der Brinkstraße in Dinslaken gegeben. Dabei sind ein PKW und ein LKW frontal zusammengestoßen. Ein 21-jähriger Dinslakener war auf der Brinkstraße in Richtung Otto-Brenner-Straße unterwegs. Hinter der Kreuzung zur Schloßstraße kam er nach links von der Fahrbahn ab und prallte frontal gegen einen LKW. Wie es dazu kommen konnte, ist noch nicht klar. Bei dem Unfall wurde der 21-Jährige in seinem Auto eingeklemmt und zog sich lebensgefährliche Verletzungen zu. Ein Rettungshubschrauber brachte ihn in eine Duisburger Unfallklinik. Der LKW-Fahrer blieb unverletzt. Nach dem Unfall am Mittag war die Brinkstraße wegen der Unfallaufnahme, der Bergung des LKW und der anschließenden Reinigungsarbeiten bis in die Abendstunden gesperrt.“
Der Rettungstransporthubschrauber Christoph 9 fliegt 1000 Einsätze im Jahr
Nikolaus Brinkmann, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am BG Klinikum Duisburg, steht an diesem Nachmittag im Juni 2023 im Schockraum. Auf dem Monitor leuchtet es rot. „Umgehender Behandlungsbedarf zur Lebenserhaltung“. Brinkmann ist die Farbe gewohnt. Etwa 300 schwerstverletzte Patienten behandelt die Unfallklinik im Jahr. Da bleiben wenige Tage ohne Katastrophe. Rettungstransporthubschrauber Christoph 9 fliegt gut 1000 Einsätze im Jahr. Heute an Bord: Ein 21-Jähriger, von Laien am Unfallort reanimiert, schwere Blutungen. Das Gehirn ist mehrmals brutal gegen die Schädeldecke geprallt, die Halswirbelsäule, aber auch diverse Knochen an Armen und Beinen sind gebrochen, die schweren Verletzungen stören die Nieren in ihrer Arbeit, der Körper ist übersäuert. Polytrauma. „In derlei Fällen betreiben wir Damage Control. Das bedeutet, wir operieren nur das nötigste sofort, alles andere wird nur geschient, um den Körper nicht im Übermaß zu belasten“, sagt Brinkmann.
Das BG Klinikum Duisburg hat sich spezialisiert auf die Akutversorgung und Rehabilitation schwerverletzter und berufserkrankter Menschen. Als vor zwei Jahren neun Einsatzkräfte der Polizei, Feuerwehr, sowie des DRK in Ratingen Opfer eines furchtbaren Brandanschlags werden, landen die Schwerstverletzten ebenfalls in Duisburg. Aber auch jeder andere, der bei der Arbeit, in der Schule oder auf dem Weg dorthin oder zurück verunglückt, ist ein Fall für die gesetzliche Unfallversicherung, die Teil der Sozialversicherung ist. In diesem Fall übernimmt die Berufsgenossenschaft die Kosten für die medizinische Versorgung. Pro Jahr springt sie nach Zahlen des Spitzenverbands DGUV für knapp 800.000 Patientinnen und Patienten ein. Für diese ist das oft ein Vorteil, zahlt die Berufsgenossenschaft doch nicht nur Verletztengeld, Renten oder ein Sterbegeld an Hinterbliebene, sondern unterstützt auch bei der Wiedereingliederung in den Beruf und dazu möglicherweise nötigen Umschulungen.

Hinter den Scheiben dieses Zimmers verbrachte Yusuf Taspinar die ersten Monate seines Aufenthalts im BG Klinikum Duisburg.
Copyright: Arton Krasniqi
Yusuf Taspinar schert sich viele Monate nicht um derlei Produktivitätsperspektiven. Es geht ums Überleben. Es geht um die Frage, ob er je wieder laufen können wird. Es geht darum, ob er genug Kraft aufbringen kann, um den Knopf der elektrischen Zahnbürste zu drücken. „Als ich das erste Mal versucht habe, mich in den Gehwagen zu wuchten, da war das unfassbar hart. Viel härter als zehn Stunden körperliche Arbeit am Stück.“ Taspinar steht auf dem Gelände des BG Klinikums Duisburg, schräg über ihm reflektiert das Fensterglas bauschig weiße Wolken am Sommerhimmel. Hinter der Scheibe hat er die ersten Monate seiner Neuroreha verbracht. Hier hat er seine Finger trainiert, seine Augen, seine Beine, seine Gedanken, seinen Kopf. „Als mir die Halskrause abgenommen wurde, war es unfassbar schwer für mich, meinen Schädel zu halten.“ Insgesamt gut neun Monate war das Duisburger Klinikum sein Zuhause.
Taspinars Körper sieht heute stabil aus. Wie der Körper eines jungen Mannes, der gern Fußball spielt und joggen geht, aber auch kein Problem damit hat, sich beim Wochenendgrillen mehrmals den Teller zu füllen. Wer Taspinar aber in die Augen sieht, der ahnt, dass hinter der zurückgewonnenen Stabilität noch viel Zerbrechliches lauert. Ein großer Teil der Unbeschwertheit ist weggeschmolzen. Früher ging es um Mode, um Autos, ums Ausgehen. Jetzt spricht Taspinar von Verantwortung, von der Pflicht, das Leben anzunehmen, vom stundenlangen Lesen, von Angst. Über die Zukunft nachzudenken, falle ihm schwer. „Ein Jahr, vielleicht zwei, wirkliche Lebensentwürfe für später sind da kaum.“ Eine Umschulung machen. Schreiben. Ein bisschen reisen.
Zwischen Haaransatz und T-Shirt-Kragen eine dicke rote Narbe
„Ich will Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen“, sagt er, dreht sich etwas schwerfällig um und folgt langsam dem Weg, der von der Klinik wegführt. Zwischen Haaransatz und T-Shirt-Kragen eine dicke rote Narbe. Ein Streifen so breit, als hätte sie ein dicker Malerpinsel hinterlassen.
Manchmal bleibt ihm noch heute, zwei Jahre nach dem Unfall, für ein bis zwei Minuten die Luft weg. „Atemnot und Todesangst“, sagt Taspinar und verankert seinen Blick im Boden. Es passiert unvermittelt. Wenn er zu Hause in der Wohnung der Eltern in Dinslaken die Spülmaschine ausräumen will. Aber auch beim Treppensteigen. Oder wenn er auf dem Beifahrersitz des Autos der Mutter sitzt, selbst ans Steuer traut sich der heute 23-Jährige noch lange nicht. „Aber auch als Beifahrer bin ich eine Katastrophe. Bei jedem Bremslicht schrecke ich auf und schreie.“ Außerdem ist da diese Hitze, die ihn manchmal überfällt. „Ich schwitze ganz plötzlich, das kann auch bei fünf Grad passieren. Das kommt von innen heraus.“ Möglicherweise eine Nachwirkung der Verletzungen an der Halswirbelsäule, durch die auch Hormone und Nerven durcheinandergebracht werden können.

An Taspinars Seite war immer seine Mutter.
Copyright: Arton Krasniqi
Die Schule, in der er sich zum Kaufmann für E-Commerce ausbilden lassen will, hat derzeit deshalb noch Bedenken ihn aufzunehmen. „Wenn ich keine Luft bekomme, müssten die immer den Krankenwagen rufen“, sagt Taspinar. Nächstes Jahr will er aber spätestens starten. An seiner Seite ist nicht nur seine Familie – neben den Eltern eine Schwester und ein Bruder – sondern auch immer eine Mitarbeiterin der Unfallversicherung. In 30 Berufe durfte er reinschnuppern, wenn sich die Atemnot nicht legt, besteht die Möglichkeit eines privaten Berufsförderungswerks. Taspinar könnte die Schulstunden dann zu Hause im Wintergarten seiner Mutter absolvieren. „Aufgabe der Unfallversicherung ist es (…) nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und Leistungsfähigkeit mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen.“ So steht es im ersten Abschnitt des siebten Sozialgesetzbuches, das die Aufgaben der Unfallversicherung regelt. Mit allen geeigneten Mitteln, das klingt großzügig und ist auch so gemeint. Von Wirtschaftlichkeit zum Beispiel steht da nichts.
Zu verdanken hat man die ganze Großzügigkeit für im Zuge der Erwerbsarbeit Verletzten tatsächlich Reichskanzler Otto von Bismarck. Er war überzeugt davon, dass nur eine gut organisierte Unfallversicherung das soziale Problem der Arbeiter löse. Wer sich bei der Arbeit verletzte, sollte eine Entschädigung erhalten, finanziert werden sollte alles durch den Staat und Beiträge der Unternehmer. Verabschiedet wurde das Gesetz 1884 wohl auch wegen der hohen Kosten erst im dritten Anlauf. Heute verzeichnet die gesetzliche Unfallversicherung gut 200.000 abgeschlossene Reha-Maßnahmen jährlich. Bei gut acht von zehn Unfallopfern gelingt nach Zahlen der DGUV die Wiedereingliederung in das Berufsleben.
Taspinar bleibt stehen. Auf der grünen Wiese vor ihm leuchtet der orangefarbene Helikopter, der ihn vor zwei Jahren hier auf dem Gebäudedach abgeliefert hat. Ein unsicheres Lächeln, aber auch ein bisschen Glück im Blick. „Hier bin ich oft mit meinem Gehwagen hergelaufen. Den Helikopter starten und landen zu sehen – das hat mir irgendwie immer ein gutes Gefühl gegeben.“ Natürlich, der Anlass für einen Flug sei immer ein Unglück gewesen, schränkt Taspinar ein: „Aber am Ende geht es immer darum, jemanden zu retten.“
Yusuf Taspinar hat über seinen langen Weg der Genesung ein Buch geschrieben. Es heißt „Das Erwachen“ und ist online und auf Bestellung im Handel erhältlich.