Müde, kurzatmig, unkonzentriertDiese ungewöhnlichen Übungen helfen bei Long Covid

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Gegen die Symptome von Long-Covid können auch zunächst kurios erscheinende Methoden helfen.

Köln – Turnschuhe, Hanteln oder ausgeklügelte Fitnessgeräte werden nicht benötigt. Aber Dinge wie eine Zahnbürste, ein Set mit eindeutigen Gerüchen oder ein Strohhalm. Die Übungen heißen Pistolendrehung, Zombiestand oder Schiel-o-Mat. Klingt albern und nicht nach ernsthaftem Training? Falsch. Marc Nölke meint sehr ernst, was er lehrt.

Immerhin hat er sich mit seinen Programmen nach langer Leidenszeit selbst kuriert. Er hat Österreichs ehemalige Weltklasse-Skispringer um Gregor Schlierenzauer und Thomas Morgenstern als Co-Trainer der österreichischen Nationalmannschaft fit gemacht. Und jetzt hilft er auch Menschen mit Long Covid. Wie, das hat er in seinem jüngst erschienen Buch „Long Covid Training. Mit Neuroathletik schneller regenerieren“ aufgeschrieben.

Kölner Sportler trainiert Neuroathletik

Marc Nölke ist Trainer, kein Therapeut. Das klarzustellen ist ihm wichtig. „Ich überlege mir Trainingsmittel und gestalte ein Programm“, sagt der 48-jährige Kölner, der für die Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes tätig ist und als Personal Trainer sowohl Spitzensportler als auch Menschen mit gesundheitlichen Problemen betreut. „Arbeiten müssen die Athleten dann selbst“, betont er.

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Der Kölner Sport- und Neuroathletik-Trainer Mark Nölke.

Das musste er auch. Zunächst als hochtalentierter Skispringer. Nach einem schweren Unfall dann als gezeichneter Ex-Skispringer. Schließlich als Mensch auf der Suche nach seinem alten Ich, auf der Suche nach besserem Schlaf, besserer Belastbarkeit, weniger Depressionen.

Ein schlimmer Trainingssturz bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville hat Marc Nölke aus dem Rhythmus gebracht. Olympia mit 18 Jahren, da bahnte sich eine vielversprechende Sportlerkarriere an – doch dann war sie beendet, bevor sie so richtig begonnen hatte. Er zog sich einen lebensbedrohlichen Milzriss, Rippenbrüche und eine

Gehirnerschütterung zu. Nölke musste erst notoperiert werden, dann wurde seine Lunge punktiert, drei Monate dauerte die Heilung der Verletzungen. Danach war er offiziell gesund, wurde aber nie wieder als Skispringer konkurrenzfähig.

„Corona kann Saustall im Gehirn hinterlassen“

Es war mehr in ihm kaputtgegangen als das Offensichtliche. Eine Erfahrung, die Nölke mit Long-Covid-Betroffenen teilt. Weshalb für ihn im vergangenen Jahr schnell klar war, dass ihnen helfen kann, was einst ihm half. Dass ihnen helfen kann, was er bereits erfolgreich bei Athleten nach einer Gehirnerschütterung oder auch nach einer schweren Nicht-Corona-Grippe anwendet. „Eine Corona-Infektion kann einen ähnlichen Saustall im Gehirn hinterlassen wie eine Gehirnerschütterung“, sagt er.

„Ich habe meinem Körper nicht mehr vertraut, ich wusste nicht mehr, was der macht“, erzählt Nölke: „Ich bin damals zu einem anderen Jungen geworden.“ Er litt unter Konzentrationsstörungen und schaffte das Abitur nur mit Ach und Krach, war wenig belastbar, ständig müde, zunehmend depressiv. Viele Jahre ging es ihm schlecht, viele Jahre suchte er nach den richtigen Mitteln, um sich „selbst zu reparieren“. Er sagt: „Ich habe erst nach langer Zeit begonnen zu kapieren, dass meine Schwierigkeiten eine Nervensystem-Problematik nach der Gehirnerschütterung und der schweren Milz-Operation waren.“

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Und so fand er zur so genannten „Neuroathletik“. Die Idee dahinter: Training ist nicht nur für Muskeln und Herz-Kreislaufsystem wichtig, sondern auch für das Gehirn. „Man kann das Nervensystem trainieren“, betont Nölke. Nicht mit Kraftübungen und Dauerläufen, sondern mit einer Zahnbürste im Ohr, mit gezielten Augenbewegungen oder mit einer bewussten Atmung gegen ein Gummiband. Hört sich nach Voodoo an? Nölke sagt: „Das ist keine Raketentechnik, sondern einfach nur ein zielgerichtetes Training.“

Menschen, die von Long Covid betroffen sind, seien häufig „nicht fit genug, um sich wieder fit zu machen“, erklärt der Trainer. Walken, Radfahren, eine Runde Golfen – was gemeinhin als gut für Fitness und Gesundheit gilt, schaffen sie oft nicht im Ansatz. Zu den häufigsten Symptomen von Long-Covid-Patienten zählen ausgeprägte Müdigkeit, Aufmerksamkeitsstörungen oder Atemnot. Es sind Beschwerden, die im Alltag massiv belasten und die Lebensqualität deutlich einschränken können.

Die häufigsten Long-Covid-Symptome

Die Beschwerden bei einer Post-Covid-Erkrankungen sind vielfältig und individuell sehr unterschiedlich. Mehr als 50 verschiedene Symptome wurden bereits beschrieben. Es kristallisiere sich jedoch heraus, dass Müdigkeit, kognitive Störungen, Atemschwierigkeiten und Kopf-, Muskel- sowie Gelenkschmerzen im Vordergrund stehen, schreibt der Mediziner Peter Niemann in seinem Buch „Das Long-Covid-Syndrom überwinden“. Die folgenden zehn Symptome träten am häufigsten auf:

Ausgeprägte Müdigkeit Kopfschmerzen Aufmerksamkeitsstörungen Haarausfall Atemnot Einschränkungen von Geschmacks- und Geruchssinn Vermehrtes Schlafbedürfnis nach körperlicher Aktivität Gelenkschmerzen Husten Vermehrte Schweißbildung

Viel ist bislang nicht bekannt über das Post-Covid-Syndrom, auch Long-Covid-Syndrom oder eben kurz Long Covid genannt, an dem viele Menschen auch Wochen oder Monate nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion noch leiden. Der Mediziner Peter Niemann hat ebenfalls ein Buch zum Thema geschrieben, „Das Long-Covid-Syndrom überwinden“ erscheint am 8. Dezember und beschäftigt sich ebenfalls mit Möglichkeiten, die Symptome der Erkrankung zu lindern. Niemann zeigt von Akkupunktur, über Therapien der Schulmedizin bis hin zu Shinrin Yoku, dem Waldbaden, eine große Bandbreite auf. Ernährung, Sport und Psychotherapie kommen ebenfalls vor.

Therapeuten, Ärzte und Long-Covid-Patienten betreten Neuland

Deutlich wird: Betroffene, Ärzte und Therapeuten erkunden Neuland bei der Long-Covid-Behandlung. Es gibt kein Allheilmittel, aber vieles, das helfen kann. Die Zahlen variieren noch sehr stark, aber Wissenschaftler gehen aktuell davon aus, dass „bis zu 35 Prozent aller an Covid-19-Erkrankten, vom Asymptomatischen bis hin zum Schwerkranken, der wochenlang im Krankenhaus behandelt wurde“, auch mit einem Post-Covid-Syndrom zu tun bekommen. So schreibt es Niemann in seinem Buch.

Bücher zu Long Covid

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Das Buch zum Thema Neuroathletik von Mark Nölke.

Foto: Herbig Verlag

„Long Covid Training. Mit Neuroathletik schneller regenerieren“, Marc Nölke, Kosmos Verlag, 20 Euro, erschienen im Oktober 2021.

„Das Long-Covid-Syndrom überwinden. Klassische und alternative Therapien ausschöpfen und zu neuer Lebenskraft zurückfinden“, Dr. med. Peter Niemann, Trias Verlag, 15,99 Euro, erscheint am 8. Dezember 2021.

Was genau Long Covid verursacht, darüber herrscht noch keine rechte Klarheit. Da die Krankheit erst seit Mitte 2020 bekannt ist, befinden sich alle Forschungen noch am Anfang. Es scheinen eine ganze Reihe von Ursachen vorzuliegen, eine dürfte sein, dass eine Corona-Infektion das körpereigene Abwehrsystem derart durcheinanderbringt, dass sich eine langanhaltende globale Entzündung im Körper entwickelt. Das für den Betroffenen spürbare Resultat: Müdigkeit, Leistungseinschränkung, diffuse Schmerzen oder Unwohlsein, aber auch auf bestimmte Organe zugeschnittene Beschwerden wie Herzrhythmusstörungen, Haarausfall oder Husten. So beschreibt es Niemann.

Eine Pille dagegen werde man kaum entwickeln können, glaubt Nölke. Dazu seien die Beschwerden zu vielfältig, zu individuell unterschiedlich von Betroffenem zu Betroffenem. Sein Ansatz ist daher die Neuroathletik, das Gehirntraining. „Wir müssen die Neuronen wieder so zum Feuern bekommen, dass sie ihren Job richtig machen“, sagt er. Es habe sich gezeigt, dass die durch eine Covid-19-Erkrankung ausgelösten Entzündungen im Körper die Gehirnfunktionen verändern können.

Funkstille zwischen den Nervenzellen

Das zeige sich vor allem in Bereichen des Stammhirns und der Inselrinde. „Und weil das Stammhirn und die Insula hervorragende Netzwerker sind, leiden natürlich jene Netzwerkpartner im Gehirn mit, mit denen in einem gesunden Gehirn viel „Funkverkehr“ besteht“, schreibt Nölke in seinem Buch. Mit seinen Übungen sagt er der Funkstille zwischen den Nervenzellen den Kampf an.

Allerdings: Sein Trainingsprogramm ist kompliziert und zeitaufwändig, keine leichte Kost für den Laien. „Das ist mir bewusst“, sagt Nölke, „aber es war mir wichtig, Betroffenen zu zeigen: Es gibt da etwas, das helfen kann.“ Jedes Gehirn sei anders, daher müsse immer wieder getestet werde, welche Trainingsreize wem helfen. Der Coach hofft, in naher Zukunft eine App zum Buch entwickeln zu können, um die Anwendung seines Programms zu erleichtern. Klar sei aber: „Neue Sachen zu lernen, ist immer etwas anstrengend. Aber genau das tut dem Gehirn gut.“

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