Plädoyer für ein ungeliebtes GefühlWarum es wichtig ist, wütend zu sein

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Wir sollten alle mehr Mut wagen! 

Köln – Wut ist die bestimmende Vokabel unserer Zeit. Verstärkt seit der Corona-Pandemie ist sie allgegenwärtig. In Talk-Shows, auf den Straßen, im Netz. Wie entsteht sie? Und ist sie wirklich so schlecht, wie ihr Ruf? Plädoyer für ein im wahrsten Sinne des Wortes bewegendes Gefühl.  Sie lesen jetzt verdammt noch mal den ganzen Text, und steigen – verflixt nochmal– nicht sofort wieder aus, Sie Ignorant!

Zumindest verwundern dürfte Sie diese unverschämte Ansprache, die Sie von Ihrer Nachrichtenmedium sicher nicht gewohnt sind. Aber was passiert dann: Klicken Sie einfach achselzuckend weiter – oder fühlen Sie sich provoziert? Dann könnte der negative Reiz jetzt eine chemische Achterbahnfahrt in Ihrem Gehirn auslösen – wie immer, wenn Sie sich beleidigt, ungerecht behandelt, kritisiert, enttäuscht oder anderweitig in Ihrer Persönlichkeit angegriffen fühlen. Und wütend werden.

Das passiert im Körper bei Wut

In Ihrem Körper startet dann folgender Prozess: Die Wörter lösen einen Reiz aus, der über die Augen und Ohren an Ihren Thalamus und von dort an die Amygdala gerät, die als Teil des limbischen Systems im Gehirn für Emotionen verantwortlich ist. In der Großhirnrinde wird die Sinneswahrnehmung dann verarbeitet, indem sie sie mit Anerzogenem und Antrainiertem abgleicht und eine Handlungsentscheidung trifft: Gegenschlag (die Autorin anrufen und zusammenbrüllen) oder Contenance wahren (deren Beleidigungen als Laune abhaken). Da die Provokation am Textanfang aber nicht lebensbedrohlich ist, werden sich die Botenstoffe der Amygdala schnell abbauen, die Großhirnrinde wird Oberwasser gewinnen und Sie bedacht reagieren lassen (vielleicht schreiben Sie der mal einen Leserbrief).

Wut als überlebenswichtige Waffe

Würde die Autorin aber mit einem Baseballschläger vor Ihrer Haustüre stehen und die Worte wiederholen, würde Ihre Amygdala schnell entscheiden, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelt. Dann reagiert Ihr Körper automatisch und entscheidet zwischen Flucht, Kampf oder Erstarrung. Die Wut kommt ins Spiel, wenn Sie sich für den Kampf entscheiden. Die Amygdala aktiviert umgehend den Hypothalamus, der Ihren Körper in Alarmbereitschaft versetzt und Stresshormone wie Adrenalin, Dopamin oder Serotonin ausschüttet. Die legen alles andere lahm. Vor allem die Vernunft. Ihre Muskeln spannen an, das Herz schlägt schneller, Atem, Puls, Blutdruck und Körpertemperatur steigen – bereit zum Kampf. Evolutionsbiologisch betrachtet, gerät man bei einem Wutausbruch in eine Art empathielosen Verteidigungsmodus.

Dieser „Fight-or-Flight“ (kämpfen oder fliehen)-Mechanismus war für unsere Vorfahren ein entscheidender Überlebensvorteil. Aus Sicht der Anthropologie hat die Wut aber eine zweite, überlebenswichtige Funktion: Wenn sie ins Gesicht geschrieben steht, die Augen gekniffen, die Brauen zusammengezogen, die Pupillen erweitert und die Wangen rot verfärbt sind – können diese Zeichen ein Gegenüber derart einschüchtern, dass es zu keiner energieraubenden, gar tödlichen Auseinandersetzung kommt. Wut kann also beides: Den Kampf vorbereiten und ihn gleichzeitig verhindern.

Wut ist nicht gleich Gewalt und Aggression

Unsere Vorfahren haben Wut als stärkste natürliche Waffe gebraucht. Heute, in einer Welt, in der Fressfeinde nicht zum Alltag gehören, ist es nicht mehr überlebenswichtig, einem Provokateur die Keule über das Haupt zu ziehen. Denn wir haben in all den Jahrtausenden gelernt, unsere Emotionen zu regulieren. Lange Zeit bedeutete das, die Wut zu unterdrücken. Denn sie ist bis heute in unserer Gesellschaft ein verschmähtes Gefühl. Der Gegenpol zu Vernunft und Intelligenz. Und fälschlicherweise meist in einem Atemzug mit Gewalt und Zerstörung genannt.

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Dabei ist Wut keine Handlung, sondern eine der sieben Grund-Emotionen neben Freude, Angst, Ekel, Neugier, Verachtung und Traurigkeit – und damit ein essenzielles Gefühl, das zu ernsthaften Problemen führen kann, wenn es dauerhaft unterdrückt wird. Wutforscher Ryan Martin sagt: „Angst warnt uns vor Gefahr, Wut vor Ungerechtigkeit, deshalb ist es wichtig, wütend zu sein.“

Zur Person und Lesetipp

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Heidi Kastner (Jhg. 1962) ist eine österreichische Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Die Chefärztin der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Linz und Gerichtsgutachterin hat einige Bücher veröffentlicht, unter anderem „Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl“, Kremayr & Scheriau 128 Seiten, 14,90 Euro.

Weltweit entdecken Experten immer mehr positive Wirkungen der Wut. Heidi Kastner zum Beispiel, Psychiaterin und Autorin, spricht sich vehement dafür aus, dass wir Wut häufiger wagen und nutzen sollten. Als Gerichtspsychiaterin weiß sie, wie fatal sich dauerhaft unterdrückte Wut auswirken kann. Angestaute Rage kann zu Angststörungen, Depressionen und Bluthochdruck führen, zu Sucht- und Essstörungen. Wut sucht sich immer ein Ventil, warnt Kastner. „Im schlimmsten Fall droht die emotionale Entladung in Affektdelikten, bei denen wie im Rausch Sachen oder andere Personen geschädigt werden.“

Wut als Motor für Veränderungen

Keine Frage: Blinde Wut, etwa in Kombination mit Rachegedanken, kann in Aggression münden und zerstörerisch sein, dann aber ist von Hass die Rede. Ein maßvoller Umgang mit dem Zustand, in dem alles im Gehirn schreit „Jetzt reicht’s!“ könne als Motor für Veränderungen dienen, dazu beitragen, sich selbst und was einen stört zu erkennen und diesen Zustand zu ändern. Wut, sagt Kastner, zeigt, was uns wirklich bewegt und wichtig ist, schützt damit vor fortlaufenden Grenzüberschreitungen und setzt Energien frei. Im Kleinen und kollektiv. „Wut ist eine Kraft, die gesellschaftlichen Wandel hervorrufen kann“, sagt auch die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder. Sie biete eine Chance, auf ungerechte Dinge zu reagieren. Die Geschichte gibt ihr Recht.

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Wut  sollte nicht nur Männern zugestanden werden.

Wütender Protest gegen Ungerechtigkeit ist seit jeher ein Mittel, Neuerungen anzustoßen. Sie war Motor unserer modernen Demokratien. Frauenwahlrecht, Ende der Apartheid, Abrüstung, Atomausstieg – all diese Errungenschaften gäbe es nicht, wenn Bürgerinnen und Bürger sie nicht lautstark gefordert und damit auf die politische Agenda gesetzt hätten. Aus Wut auf die Untätigkeit der Erwachsenen im Hinblick auf die Klimakrise wurde die Fridays-for-Future-Bewegung zu einer weltweit politischen Kraft.

Mit der Corona-Pandemie scheint die Wut aber eine prägende Grundstimmung unserer Gesellschaft geworden zu sein. Vielerorts wird wütend diskutiert und demonstriert – gegen das Impfen, gegen das Tragen einer Maske, gegen 2G-Regeln. Im Gegensatz zu früheren Protest-Bewegungen geht es kaum noch um die Sache, für die man eintritt, als um ein generelles „dagegen sein“. Aber handeln die Akteure wirklich aus Wut über die Verhältnisse?

Wutbürger, Wort des Jahres 2011

2011 kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff „Wutbürger“ zum Wort des Jahres, den ein Spiegel-Journalist vor dem Hintergrund der Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 erfand. In einem Essay beschrieb er den Wutbürger als einen Menschen, der „mit der bürgerlichen Tradition gebrochen hat, dass zur politischen auch eine innere Mitte (wie Gelassenheit) gehört. Er buht, schreit, hasst (…) ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört.“ Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, der Begriff würde die Empörung in der Bevölkerung über eigenmächtige Entscheidungen der Politik und das Bedürfnis nach Mitsprache auf den Punkt bringen.

Seither macht die „Wut“ in (rechts-)populistischen Kreisen Karriere: AfD, Pegida, Gegner liberaler Flüchtlingspolitik, Brexit, Donald Trump – sie alle missbrauchen die Wut als emotionales Aufputschmittel und heizen die Erregung an statt Kompromisse zu suchen. Setzen auf Emotion statt Diskurs. Auf Empörung statt Lösungsfindung. Und sie befeuern damit eine Entwicklung, die sich weg von legitimem Protest hin zu Fanatismus bewegt, von Aufregung zu Verbitterung. Und blindem Eifer.

Argumente statt blinder Eifer

Mit Wut hat das laut Kastner nichts zu tun, die nämlich ist „eine individuelle, situative, kurzlebige Emotion, die aus persönlichen Verletzungen resultiert.“ Vielleicht sollte man daher den Begriff Wutbürger durch Hass- oder Frustbürger ersetzen. Auch, um der „guten“ Wut zu einem besseren Image zu verhelfen. Die, da sind sich Heidi Kastner, Ciani-Sophia Hoeder und andere „Wut-Befürworter“ einig, hat nämlich das Zeug dazu, das zu mobilisieren, was das Wesen des konstruktiven Protestes ausmacht: Argumenten Nachdruck zu verleihen – statt sie zu ersetzen. 

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