Viel zu warmer HerbstBäume und Pflanzen blühen schon wieder – ist das schlimm?

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Sträucher treiben bei den warmen Temperaturen im Herbst zum zweiten Mal aus.

Köln – Die aktuell ungewöhnlich warmen Temperaturen verleiten die eine oder andere Pflanzenart, noch einmal auszutreiben oder sogar zu blühen. So schön das ist, es irritiert. Müssen wir uns Sorgen machen um diese Pflanzen? Ist das nach dem für sie stressigen, weil über die Maße trockenen Sommer ein letztes Aufbäumen vor dem Tod? Der Versuch, wenigstens noch ein paar Samen zu hinterlassen? Wir haben einen Botaniker gefragt.

Wem beim Blick in die Natur im heißen Sommer die Seele schmerzte, der wird aktuell üppig entschädigt. Der zunächst feuchte Herbst hat der Pflanzenwelt Erholung beschert. Die Wiesen sind wieder saftig grün, die Bäume tragen ein buntes Blätterkleid in kräftigen Herbstfarben. Ein Gang durch Wälder und Felder macht richtig Spaß. Der eigene Garten hat sich von verdorrtem Ödland zurück in grünen Genuss verwandelt.

Botaniker Lars Dietrich

Botaniker Lars Dietrich 

Und wer genau hinsieht, wird überrascht. Da finden sich frische Triebe oder gar Blüten, die eigentlich fehl am Platz sind um diese Jahreszeit. Unterm Apfelbaum sind die vertrockneten Blätter der Akelei frischem Grün gewichen. Die Rosskastanie treibt neue Blätter und Blüten aus. Storchenschnabel, Wiesenflockenblume, Hornklee oder Scharfgabe – sie alle blühen plötzlich noch einmal auf in diesem inzwischen sehr warmen Herbst. Lars Dietrich ist der stellvertretende Leiter des NaturGuts Ophoven in Leverkusen – und er gibt Entwarnung. Zumindest, was die unmittelbare Gefahr für die Pflanzen angeht.

Pflanzen blühen jetzt gezwungenermaßen

„Die Pflanzen haben keinen eigenen Willen“, sagt Dietrich: „Sie blühen gezwungenermaßen, weil ihnen ihr Stoffwechsel das vorgibt.“ Um zu wissen, in welcher Jahreszeit sie sich befinden und was sie zu tun und zu lassen haben, deuteten Pflanzen die Signale der Umwelt. Die Kombination aus Temperatur und Tageslänge gebe ihnen dabei in aller Regel eine gute Orientierung. Kurze, kalte Tage bedeuten Winter. Für die Pflanzen sei dann „Chilling“ angesagt, eine Ruhephase nach dem produktiven Sommer. Gehen die Temperaturen wieder hoch und werden die Tage wieder länger, heißt das für die Pflanzen: Zeit aufzuwachen und auszutreiben.

Bluete im Herbst

Ende Oktober blüht Rhododendron im Blücherpark in Köln. 

„Nun hatten wir in diesem Herbst schon eine Phase mit Temperaturen um den Gefrierpunkt“, sagt Dietrich. Für manche Pflanzenarten habe das als Ruhephase gereicht. Die wieder steigenden Temperaturen im Oktober bei einer dem Frühjahr ähnlichen Tageslänge deuteten sie als Aufforderung: Schluss mit Chilling und wieder ab in den Produktivitäts-Modus. „Die Pflanzen denken, sie seien im Frühling“, sagt Dietrich. Neu sei das Phänomen nicht, schon in den 70er Jahren habe es in China Beobachtungen dieser Art gegeben. „Aber in Zeiten des Klimawandels häufen sich diese Fälle“, so der Botaniker, „sie könnten in Zukunft die Regel werden“.

Keine Gefahr für die Pflanzen

Um die Falsch-Blüher müsse man sich keine Sorgen machen. Sie verkrafteten so eine Herbstblüte sehr gut. Den erhöhten Energieaufwand könnten sie über die Fotosynthese schnell decken. Und auf Austrieb und Blüte im nächsten Jahr habe die Extraarbeit im Herbst in aller Regel keine Auswirkungen.

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Mitten im Herbst treibt die Rosskastanie wieder Blüten und Blätter. 

Aber diese Reaktion der Pflanzen belege ganz eindeutig, dass der Klimawandel in vollem Gange ist, sagt Dietrich. Die Vegetation reagiert sichtbar auf die vom Menschen verursachten Veränderungen. Auch wenn das für die einzelne Pflanze keinen unmittelbaren Schaden bedeutet, gerät das Gesamtsystem durcheinander.

Stickstoffüberfluss bedroht die Artenvielfalt

Ein Beispiel: Für die Blüte brauchen Pflanzen viel Stickstoff. Der ist im Normalfall nicht unendlich vorhanden und damit vor allem im Herbst ein limitierender Faktor. Aber: In heutigen Zeiten steht den Pflanzen eher zu viel als zu wenig Stickstoff zur Verfügung. Denn er gelangt mit unseren Autoabgasen in die Luft und wird vom Regen ausgewaschen und in die Böden transportiert. Das führt zu einer Ausbreitung der Pflanzen, die gut mit viel Düngung (Stickstoff) klarkommen. Dazu gehören Große Brennnessel, Kletten-Labkraut, Wiesen-Bärenklau, Schwarzer Holunder, Löwenzahn, Giersch, Weiße Taubnessel oder Rotklee. Auf der anderen Seite bedeutet das den Niedergang jener Arten, die sich nur auf nährstoffarmen Standorten behaupten können, weil dann keine andere Pflanze zu stark werden kann. Das sind zum Beispiel Ackerveilchen, Arnika, Große Braunelle, Kleiner Wiesenknopf, Margerite, Wundklee oder Kleine Bibernelle.

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Auch die Akelei treibt vielerorts noch einmal Blüten. 

Macht ja nichts, dann haben wir halt ein paar Blumen weniger? Falsch. Mit jeder Art, die wir ausrotten, schaden wir uns selbst. Denn eine vielfältige Pflanzenwelt sieht nicht nur schön aus und ist Lebensgrundlage für viele Insekten, sondern bietet auch uns Menschen ein schier unerschöpfliches Reservoir an Heilkräften und Inspiration. Die Natur liefert uns viele medizinische Wirkstoffe, und ihre Perfektion ist oft Rätsel und Vorbild gleichermaßen. So haben wir uns etwa den sogenannten Lotus-Effekt von Pflanzen abgeguckt. Diese Selbstreinigungsfähigkeit wasserabweisender nanostrukturierter Oberflächen fasziniert bis heute und wird etwa bei Fassadenfarben eingesetzt.

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Dazu kommt ein psychologischer Effekt. „Der Mensch fühlt sich erwiesenermaßen wohler, je artenreicher die Umgebung ist, in der er lebt“, sagt Dietrich. Vernichten wir die Vielfalt um uns herum, gefährden wir unser Selenheil.

Bunte Blätter, nahender Winter

Das herbstlich-bunte Blätterkleid der Bäume zeigt, dass ihnen der kurze Kältereiz, dem sie bereits ausgesetzt waren, schon klargemacht hat, dass der Winter naht. Nach einem langen Sommer und viel Fotosynthese sind ihre Kohlenhydratspeicher voll. Die ersten kalten Tage haben ihnen signalisiert: Speichert auch die letzten wertvollen Nährstoffe noch ein für den Austrieb neuer Blätter im Frühjahr – und dann weg mit den alten und ab in die Winterruhe.

Im Chlorophyll, dem grünen Farbstoff der Blätter, sitzen viel Stickstoff und Magnesium. Also wird er abgebaut und die beiden wertvollen Stoffe werden in den Ästen und im Stamm gespeichert. Übrig bleiben die weniger wertvollen Carotinoide und Anthocyane, sie sorgen für die kräftigen Orange- und Rottöne des Herbstlaubs. Im Sommer sind sie die Sonnencreme der Bäume, sie absorbieren überschüssiges Licht und schützen die Blätter so vor Sonnenbrand.

Drohende Folgen des Klimawandels

Der heiße, trockene Sommer war Stress pur für die allermeisten Pflanzen. Der feuchte Start in den Herbst dagegen brachte Erholung. „Pflanzen können sich sehr gut regenerieren“, sagt Botaniker Dietrich. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet: Jede Pflanze hat ihre eigene Mehr-geht-nicht-Schwelle, einen „point of no return“. Wird der überschritten, dann hat die Pflanze keine Chance mehr, sich zu erholen. Trauriges Beispiel: die Fichte. Das Zusammenspiel aus anhaltender Trockenheit und Käferbefall hat sie in unseren Breitengraden vernichtet. „Wenn der Klimawandel weiter fortschreitet und die trockenen Sommer noch schlimmer werden, können wir uns von einigen Arten mehr verabschieden“, prophezeit Dietrich.

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Bei dem warmen Wetter blühen Pflanzen gezwungenermaßen, weil ihnen ihr Stoffwechsel das vorgibt.

Die Fichte gehört in den Norden oder an die Baumgrenze in den Alpen. Hierzulande ist sie nicht heimisch, sondern sollte den Bedarf der Forstwirtschaft an schnell nachwachsendem Holz decken. Nun ist sie zum Vorboten der Folgen des Klimawandels geworden. „Es kann in Zukunft aber auch die ohnehin gebeutelte Esche treffen oder die Buche“, sagt Dietrich.

Die bunten Blüten, die uns aktuell aus den Herbstfarben entgegen leuchten, sind weitere Vorboten. Lieblich und schön anzusehen, keine unmittelbare Gefahr für ihre Pflanzen, aber doch ein deutliches Zeichen, wie sehr der Mensch das Gleichgewicht der Natur ins Wanken bringt.

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