RechtsfrageKönnen Täter von einer versuchten Tötung „zurücktreten“?

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Anzeige der Saalbesetzung in einem Amtsgericht

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Staatsanwältin Laura Neumann erklärt in der Kolumne „Recht und Ordnung“, was passiert, wenn man eine schwere Tat rechtzeitig abbricht.

Bei einer schweren Gewalttat, bei der glücklicherweise aber niemand zu Tode kommt, muss die Staatsanwaltschaft oft bereits während des Ermittlungsverfahrens, spätestens bei Anklageerhebung dennoch prüfen, ob ein versuchtes Tötungsdelikt in Frage kommt, also versuchter Totschlag oder versuchter Mord.

Nehmen wir an: Martin ist wütend auf Philipp und stellt ihn vor dessen Haustür zur Rede. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hat Martin ein Messer mitgenommen. Während des Streits wird er so zornig, dass er Philipp töten will. Er zieht das Messer und sticht auf Philipps Oberkörper ein. Philipp wird schwer verletzt, überlebt aber den Angriff.

Gericht muss prüfen, ob der Tatverdächtige „vom Versuch zurückgetreten ist“

Zu den Voraussetzungen für die Strafbarkeit eines Versuchs gehört zunächst, dass der Täter sich die Tat samt Vollendung vorgestellt, also zumindest billigend in Kauf genommen hat, das Opfer durch die Messerstiche zu töten. Dann muss er zu dieser Tat auch unmittelbar angesetzt haben, um den meist strafbaren Versuch von der zumeist straflosen Vorbereitung abzugrenzen. Das Ziehen und Hochhalten des Messers wäre in Martins Fall als Vorbereitung zu sehen, mit dem Zustechen hat er aber die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten und damit – so die Definition – unmittelbar zur Tat angesetzt.

Was sich nicht direkt aufdrängen dürfte: Für die Strafbarkeit einer Tat muss darüber hinaus geprüft werden, ob der Tatverdächtige möglicherweise strafbefreiend „vom Versuch zurückgetreten“ ist. Nach Paragraf 24 des Strafgesetzbuchs wird wegen Versuchs nämlich nicht bestraft, „wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert“. Die Begründung für diese Strafbefreiung ist umstritten: Nach einer Theorie soll dem Täter eine „goldene Brücke“ zur Umkehr gebaut und so die Vollendung der Tat vermieden werden. Nach anderen Theorien soll der Täter für seine Abkehr belohnt werden, oder es entfällt die Notwendigkeit einer Bestrafung.

Erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Einordnung der Tat

In der Praxis ist daher relevant, warum das Opfer trotz des vorsätzlichen und möglicherweise lebensgefährlichen Angriffs nicht gestorben ist. Dies kann erhebliche Auswirkungen auf die rechtliche Einordnung der Tat haben. Der Täter kann nämlich nicht vom Versuch zurücktreten, wenn dieser aus seiner Sicht „fehlgeschlagen“ ist, also er sein Ziel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur erreichen kann. Wenn Martin bei seiner Attacke schon beim ersten Stich die Messerklinge abbricht und ihm danach kein anderes Tatmittel zur Verfügung steht, oder wenn er von Philipps herbeigeeiltem Bruder überwältigt wird, kann er die Tat nur deshalb nicht vollenden und hat sich folglich eines versuchten Tötungsdelikts strafbar gemacht.

Ein strafbefreiender Rücktritt liegt auch nicht vor, wenn der Versuch aus Sicht des Täters bereits beendet ist, er also davon ausgeht, dass er alles getan hat, um den Tatbestand zu verwirklichen, und er sich nicht ernsthaft bemüht, die Vollendung der Tat zu verhindern. In unserem Fall: Martin sticht Philipp mehrfach in die Brust. Dieser sinkt zu Boden und verliert das Bewusstsein. Martin denkt, dass Philipp an den schweren Verletzungen sterben wird, lässt ihn blutend und bewusstlos liegen und verlässt den Tatort. Nur durch einen glücklichen Zufall kommen Passanten vorbei, die den Notruf wählen, und Philipp überlebt dank einer Notoperation. Martin ist auch hier wegen einer versuchten Tötung zu bestrafen.

Ist der Rücktritt freiwillig oder aus anderen Gründen erfolgt?

Ist der Versuch weder fehlgeschlagen noch beendet, muss dann noch entschieden werden, ob der Rücktritt freiwillig erfolgt ist, der Täter die Tatvollendung also aus selbstgesetzten Motiven nicht mehr erreichen wollte. Kommt Martin nach mehreren - bislang nicht lebensgefährlichen – Stichen zur Besinnung und erkennt, welchen Fehler er gemacht hat, dann kann er freiwillig zurücktreten. Auch wenn Philipps Tochter hinzukommt und Martin anfleht, von seinem Opfer abzulassen, kann das Aufgeben der Tat noch freiwillig sein. Hört Martin aber Sirenen und sieht die Polizei in die Straße einbiegen, dann hat sich das Risiko der Tatentdeckung zu sehr erhöht, weshalb der Rücktritt wohl nicht mehr freiwillig wäre.

Liegen die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch vor – lässt Martin also aus Erschütterung über sein Verhalten von Philipp ab und wird dieser aufgrund schneller medizinischer Versorgung gerettet -, dann kommt es wegen des versuchten Tötungsdelikts nicht zu einer Anklage. In unserem Fall käme für Martin aber aufgrund der Verletzungen, die er Philipp zugefügt hat, eine Anklage und Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in Betracht.

Dieser Text ist eine Folge unserer Rechtskolumne „Recht & Ordnung“. In dieser Serie schreiben Staatsanwältin Laura Neumann (Düsseldorf) sowie die Rechtsanwälte Pia Lorenz („Beck aktuell“), Martin W. Huff (ehem. Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln), Christian Solmecke (Partner der Kölner Medienrechtskanzlei WBS.Legal) und Thomas Bradler (Verbraucherzentrale NRW, Leiter Markt und Recht). In ihren Kolumnen geben sie Auskunft zu oft kniffligen Fragen des Rechts, können aber keine Rechtsberatung bieten oder in konkreten Fällen den Gang zu einem Anwalt ersetzen. Haben Sie eine Frage an unsere Experten? Dann schreiben Sie uns eine Mail an: recht-und-ordnung@kstamedien.de

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