„Remigration“Trägt die Wahl zum „Unwort des Jahres“ zu dessen Normalisierung bei?

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Demonstranten nehmen an einer Protestveranstaltung gegen Rechtsextremismus teil. Zu lesen ist ein Schild mit der Aufschrift "Remigration! Wo ist der Haken?"

Wenn Rechtsextreme von „Remigration“ sprechen, dann meinen sie die massenhafte Vertreibung von Menschen. Wird diese Begriff gerade normalisiert?

„Remigration“ ist „Unwort des Jahres“ geworden. Als Nachricht verbreitet sich der Begriff nun noch mehr. Trägt das zur Normalisierung bei? Ein Sprachwissenschaftler dazu.

Es stimmt: Wenn wir als Gesellschaft mit menschenfeindlichen Begriffen konfrontiert sind, stecken wir in einer Zwickmühle. Greifen wir sie auf? Reden wir öffentlich darüber? Wir riskieren dann, dazu beizutragen, diese Wörter überhaupt erst in Umlauf zu bringen. 

Oder ignorieren wir sie, schweigen wir darüber? Dann bleiben solche Wörter unwidersprochen stehen, und viele Menschen könnten den Eindruck bekommen, ihre Verwendung sei unproblematisch.

Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist ein deutscher Sprachwissenschaftler, Anglist und Publizist. In unserer Stilkolumne „Wie geht's?“ schreibt er regelmäßig, wie wir mit Sorgfalt, aber ohne Krampf kommunizieren.

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Eine Sache der Abwägung

Welche Strategie die bessere ist, hängt zum einen vom verletzenden Potenzial solcher Wörter ab. Natürlich sollten wir uns nicht in ausgiebigen Diskussionen über herabwürdigende Ausdrücke für schwarze Menschen, Frauen, homosexuelle Menschen und andere diskriminierte Bevölkerungsgruppen ergehen, im Zuge derer wir diese Ausdrücke dann hundertfach wiederholen.

Zum anderen hängt es von der Ausgangslage ab. Handelt es sich um einen Ausdruck, der wenig bekannt ist? Dann ist es besser, ihm keine Prominenz zu verschaffen, in der Hoffnung, dass er auf Kreise beschränkt bleibt, die mit Diskussionen über einen menschenwürdigen, respektvollen sprachlichen Umgang sowieso nicht mehr erreichbar sind. Oder ist das Wort bereits in aller Munde? Dann wäre Zurückhaltung fehl am Platz – es braucht vielmehr klaren Widerspruch, nicht nur inhaltlich, sondern auch gegen den Begriff selbst.

Der Begriff „Remigration“ ist bereits in aller Munde

Beim Begriff „Remigration“ ist letzteres der Fall: Nachdem er in rechtsradikalen Kreisen bereits seit Jahren als schönfärberischer Ausdruck (Euphemismus) für die Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund in Gebrauch war, gelangte er mit den Enthüllungen über das Geheimtreffen von Mitgliedern der AfD und anderen rechtsextremistischen Organisationen ins Bewusstsein der Sprachgemeinschaft insgesamt.

Er wurde von den Medien aufgegriffen, in den meisten Fällen glücklicherweise von Anfang an mit kritischer Distanz, und es entspann sich schnell eine öffentliche Debatte darüber, wie dieses auf den ersten Blick wertneutrale, sachliche Wort bei einem unreflektierten Gebrauch dazu beitragen könnte, uns die menschenfeindliche Politik dahinter sprachlich schmackhaft zu machen.

Die Entscheidung der „Unwort des Jahres“-Jury war richtig

Die Jury der „Sprachkritischen Aktion“ hat hier richtig reagiert, indem sie dieses – streng genommen ja erst in diesem Jahr bekanntgewordene Wort – zum „Unwort des Jahres“ 2023 gewählt und ihm damit einen Platz in ihrer Chronik sprachlicher Verrohung gegeben hat. Sie hat diese Chronik gerade in den letzten Jahren sehr konsequent fortgeschrieben.

Zwar waren gelegentlich Wörter dabei, von denen ohne die Wahl zum Unwort wahrscheinlich niemand Notiz genommen hätte, etwa der „Sozialtourismus“ (2013). Aber meistens waren es Wörter, die bereits allgemein bekannt waren und sich teilweise auch im Sprachgebrauch von Teilen der Medien fanden oder finden, so die „Döner-Morde“ (2011), „alternative Fakten“ (2017) oder „Pushbacks“ (2021).

Die Wahl eines Unworts erinnert uns einmal im Jahr daran, den Sprachgebrauch von Politik und Medien — und auch unseren eigenen — zu reflektieren. Natürlich dürfen wir uns nicht allein darauf verlassen, sondern müssen das ganze Jahr über wachsam bleiben. Das kann aber auch gelingen. Im Jahr 2015 haben viele große Medien eine Zeitlang die extrem verharmlosenden Wörter „Asylkritiker“ und „asylkritisch“ für Menschen verwendet, die sich mit Naziparolen und Brandsätzen vor Flüchtlingsunterkünften versammelten. Zum „Unwort des Jahres“ wurde es zwar nicht gekürt, aber die Medien haben es damals geschafft, sich selbst zu korrigieren und diese Vokabeln aus ihrem Sprachgebrauch zu verbannen.

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