70.000 oder doch nur 30.000?Wie die Teilnehmerzahl bei Demonstrationen bestimmt wird

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Drohnen-Fotos (Standbilder aus Videomaterial) der Großdemo ‚Demokratie schützen, AfD bekämpfen‘ mit 70.000 Teilnehmenden an der Deutzer Werft.

Um die Zahl der Teilnehmer einer Demonstration – hier gegen die AfD an der Deutzer Werft – zu berechnen, muss man die Größe der Fläche kennen.

70.000 Menschen sollen in Köln an den Demonstrationen gegen die AfD teilgenommen haben. Wie zählt man das eigentlich?

Rund 70.000 Teilnehmer haben am vergangenen Sonntag an der Demonstration gegen den Rechtsruck der AfD an der Deutzer Werft in Köln teilgenommen. Einige Tage zuvor auf dem Heumarkt sollen es 30.000 Menschen gewesen sein. Auch die Teilnehmerzahlen der Demos in anderen deutschen Städten gingen durch die Medien. Doch woher weiß man eigentlich, wie viele Menschen an einer Demonstration teilgenommen haben? Schließlich gibt es keine Eintrittskarten oder sonstige Einlasskontrollen. Dr. Stephan Poppe ist Dozent für Statistik am Institut für Soziologie an der Universität Leipzig und beschäftigt sich schon lange mit dem Zählen von Menschenmassen. Er erklärt, wie man die Teilnehmerzahlen von Demonstrationen ermittelt.

Dr. Stephan Poppe ist Dozent für Statistik am Institut für Soziologie an der Universität Leipzig.

Dr. Stephan Poppe ist Dozent für Statistik am Institut für Soziologie an der Universität Leipzig und beschäftigt sich schon lange mit dem Zählen von Menschenmassen.

„Demonstrationen als außerparlamentarische Meinungsäußerung sind für die Soziologie ein wichtiges Forschungsfeld, ganz besonders in Leipzig“, sagt Poppe. Hier fanden 1989 kurz vor der Wende regelmäßig Protestmärsche statt, mit denen die Teilnehmer ihre Unzufriedenheit mit der DDR ausdrückten. Auch 2015 gab es in Leipzig und Dresden immer wieder Märsche der Bewegung „Pegida“, was für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ steht. Schon 1991 wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie sich der Zulauf zu den wiederkehrenden Protesten von Woche zu Woche verändert. Dafür brauchten sie genaue Zahlen.

Klären, was die Teilnehmerzahl überhaupt ist

Diese zu ermitteln, ist allerdings gar nicht so einfach. Zu Beginn muss geklärt werden, was genau die Teilnehmerzahl überhaupt ist. Poppe veranschaulicht das an diesem überspitzten Beispiel: „Am Anfang einer Demonstration kommen 10.000 Menschen und gehen nach einer Stunde nach Hause. Dann kommen die nächsten 10.000 und gehen ebenfalls nach einer Stunde nach Hause. Am Abend wiederholt sich das Ganze noch einmal. Insgesamt waren also 30.000 Menschen da, aber nie mehr als 10.000 gleichzeitig.“

„Es ist eine Utopie, eine exakte Teilnehmerzahl anzugeben“

Und wie werden diese 10.000 Menschen gezählt? Dazu gibt es verschiedene Methoden, keine davon ist wirklich genau. „Mit den gegebenen Möglichkeiten und unter Berücksichtigung von Datenschutz- und moralischen Aspekten ist es eine Utopie, eine exakte Teilnehmerzahl anzugeben“, sagt Poppe ganz klar. Diese ließe sich nur mit einem Registrierungs- oder Kontrollverfahren wie im Fußballstadion oder bei Konzerten feststellen, nicht aber bei einer Demonstration, zu der die Menschen frei kommen.

Menschen pro Quadratmeter werden mit der Flächengröße multipliziert

Auch, wenn die exakte Zählung nicht möglich ist, lässt sich die Teilnehmerzahl dennoch recht genau ausrechnen, wenn man die Quadratmeterzahl der Demonstrationsfläche kennt. Diese wird dann mit der Zahl der Menschen multipliziert, die sich pro Quadratmeter aufhalten. Wie viele das sind, ist Poppe zufolge nicht immer klar zu beantworten. Vor der Bühne sei es oft voller als an den Rändern, insgesamt stünden die Menschen je nach Veranstaltung unterschiedlich nah nebeneinander. Als Mittelwert wird deshalb oft die Zahl 1,5 verwendet.

Seitenstraßen sind besonders schwierig zu erfassen

Diese Berechnung schließt nur eine zentrale Fläche mit ein, Seitenstraßen und Ränder werden meist nicht berücksichtigt. Das macht die Berechnung ungenau. Helfen können dann Überblicksbilder aus der Luft, die die Ränder mit einschließen. Für eine grobe Schätzung wird wieder die Fläche in Quadratmetern ausgemessen und mit einer geeigneten Dichte multipliziert. Wenn es genauer sein soll, muss jeder einzelne Kopf gezählt werden. „Das ist ein sehr aufwändiger Prozess. Auch KI hilft uns dabei im Moment noch nicht wirklich weiter“, sagt Poppe.

Fließende Demonstrationen in kleinere Teilbereiche aufteilen

Wieder andere Methoden kommen bei einem Protestzug zum Einsatz, der nicht in einem bestimmten Bereich stagniert, sondern sich durch die Stadt bewegt. Hier müssen die Teilnehmer, wenn möglich, einzeln gezählt werden. Das funktioniert nur mit Tricks, die die Masse in kleinere Teilbereiche aufspalten. Bei einem kleineren Zug mit maximal 10.000 Menschen können sich zum Beispiel mehrere Zähler auf einer Verkehrsinsel positionieren, an der sich der Strom der Menschen teilt. Jeder Zähler und jede Zählerin bekommt dann einen bestimmten Teilstrom zugewiesen, in dem er mit einem Klicker die vorbeikommenden Personen registriert.

Bei einer kleineren Demo ist es auch möglich, vom Ende aus mitzugehen, die Menschen zu überholen und sie dabei zu zählen. „Der Vorteil daran ist, dass man sein Tempo der Masse anpassen kann. Wenn es zu viele Menschen sind, läuft man einfach erstmal parallel mit ihnen mit bis man alle durchgezählt hat, ansonsten geht man einfach immer ein wenig schneller“, erklärt Poppe.

Wie viele Menschen pro Sekunde?

Wenn es sich um eine größere Demonstration handelt, funktionieren diese Methoden nicht mehr. Hier wird dann stichprobenartig geschaut, wie viele Menschen pro Sekunde an einer bestimmten Stelle vorbeikommen. Dann wird hochgerechnet. Ein Beispiel: Pro Sekunde laufen 20 Personen an der Zählstelle vorbei, das sind dann pro Minute 1200 Menschen. Bei einer Dauer von etwa einer Stunde haben etwa 72.000 Personen am Demozug teilgenommen. „Der Trick an allen Schätzmethoden ist, das Zählproblem so aufzusplitten, dass es kognitiv zu verarbeiten ist“, erklärt Poppe.

Veranstalter geben oft höhere Zahlen an als die Polizei

Zu vielen Veranstaltungen kursieren am Ende unterschiedliche Teilnehmerzahlen von unterschiedlichen Absendern. Die Veranstalter geben oft mehr Personen an als die Polizei. Poppe erklärt sich das damit, dass die Veranstalter kommunizieren möchten, dass möglichst viele Menschen zu ihrer Demo kommen und deshalb großzügig rechnen. Die Polizei dagegen benötige nur eine ungefähre Teilnehmerzahl, um einschätzen zu können, mit wie vielen Einsatzkräften sie vor Ort sein müsse. Aus Poppes Erfahrung wurde sich dabei sowohl schon nach unten als auch nach oben verschätzt. Eine systematische Verzerrung, wie es der Polizei manchmal vorgeworfen wird, kann er „definitiv nicht“ erkennen.

Einen offiziellen Zählauftrag gibt es nicht

Einen offiziellen Zählauftrag der Behörden oder einen formalen Zählprozess gibt es nicht. Welche Zahl am Ende kommuniziert wird und sich weiter verbreitet, hat laut Poppe auch etwas mit Schnelligkeit zu tun. „Nicht selten versuchen die Veranstalter, noch vor der Polizei eine Zahl herauszugeben, die sich dann immer weiter verbreitet. Am Ende geht es darum, wer den Deutungskampf gewinnt und die vermeintlich offizielle Zahl setzt“, meint Poppe.

Dass die Zählungen in naher Zukunft vollständig automatisiert stattfinden können, glaubt er nicht. Dazu gebe es zu wenig entsprechend hochwertige Daten und zu viele berechtigte datenschutzrechtliche Bedenken, diese zu erheben. Poppe: „Demonstrationen sind ein wichtiges Grundelement einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Wenn die Menschen dabei vollständig digital erfasst und gezählt werden, schreckt es sie eher ab.“

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